Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 88“ im Online-Nebelspalter vom 6. November 2023 zu lesen.
Vor kurzem haben meine Frau und ich per Post je ein Päckchen Jodtabletten erhalten. Sämtliche Personen im Umkreis von fünfzig Kilometern der vier Schweizer Kernkraftwerke sind mit solchen Tabletten versorgt worden. Damit soll die Bevölkerung für den Fall eines schweren Kernkraftwerk-Unfalls vor Schilddrüsenkrebs geschützt werden (siehe hier). Die Tabletten sind zehn Jahre haltbar. Allerdings entpuppt sich diese Massnahme mehr als Angstmacherei denn als wirkungsvollen Schutz.
Was wichtig ist:
– Vor kurzem sind im Umkreis von fünfzig Kilometern der Schweizer Kernkraftwerke Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt worden.
– Die Aktion macht allerdings wenig Sinn. Selbst wenn sich ein Unfall wie in Tschernobyl ereignen sollte – was äusserst unplausibel ist – , würden die Tabletten lediglich einen einzigen Todesfall pro Jahr verhindern.
– Verglichen mit jährlich 70’000 Todesfällen in der Schweiz ist dieser Nutzen statistisch vernachlässigbar.
Wenn in einem Kernkraftwerk ein massiver Unfall mit einer Kernschmelze passiert, gelangen radioaktive Substanzen in die Umgebung. Ein gewisser Teil davon ist das radioaktive Jod-Isotop I-131. Gelangt dieses via Nahrung in den menschlichen Körper, kann es dort ein Schilddrüsenkarzinom verursachen. Um die bei einem Unfall vorhandenen Gefahren einschätzen zu können, muss man zuerst wissen, wie gross das alltägliche Risiko ist, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken oder daran zu sterben.
Nur wenig Menschen erkranken an Schilddrüsenkrebs
Antworten darauf finden sich im Dokument «Krebs in der Schweiz: wichtige Zahlen» der Krebsliga Schweiz, das den Stand der Dinge im Dezember 2022 beschreibt (siehe hier). Danach gab es in der Zeit von 2015 bis 2019 durchschnittlich 780 Menschen pro Jahr, die neu an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind. Verglichen mit den gesamten 45’000 Krebs-Neuerkrankungen (Inzidenz) pro Jahr macht der Schilddrüsenkrebs also nur 1,7 Prozent aus. Dass aber Schilddrüsenkrebs relativ erfolgreich behandelt werden kann, lässt sich aus der folgenden Grafik herleiten, in der ich anhand des Dokuments der Krebsliga die Zahl der Todesfälle verschiedener Krebsarten miteinander vergleiche.
Alle Zahlen der Grafik geben Durchschnittswerte für den Zeitabschnitt von 2015 bis 2019 wieder. In dieser Zeit gab es im Schnitt jährlich 17’300 Menschen, die in der Schweiz an Krebs gestorben sind (unterster Balken). Darüber sind die fünf Krebsarten aufgelistet, die am meisten Todesopfer gefordert haben: Mit Abstand an der Spitze steht Lungenkrebs mit 3’300 Todesfällen.
Nur jeder tausendste Todesfall ist auf Schilddrüsenkrebs zurückzuführen
Unser Corpus delicti, der Schilddrüsenkrebs, findet sich in der Rangliste der 32 aufgeführten Krebsarten erst auf Platz 26 mit nur 65 Todesfällen (oberster Balken). Das sind 0,4 Prozent aller Krebstodesfälle. Verglichen mit dem Anteil der Krebs-Neuerkrankungen von 1,7 Prozent ist der Anteil der Krebstodesfälle bei Schilddrüsenkrebs also deutlich tiefer. Das signalisiert, dass die Behandlungsmassnahmen bei dieser Krebsart vergleichsweise erfolgreich sind.
In der Schweiz ist aber nur rund jeder vierte Todesfall auf Krebs zurückzuführen. Verglichen mit den jährlich total 66’900 Todesfällen im genannten Zeitraum, ist das Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu sterben, nur 0,1 Prozent – also extrem niedrig.
Über 6000 Tumore bei Kindern in Tschernobyl
Welches sind nun die wichtigsten Erfahrungen, die man bei grossen Unfällen in Kernkraftwerken gemacht hat? Massgebend ist hier vor allem die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, die sich im April 1986 in der heutigen Ukraine ereignet hat. Bis heute ist dort die mit Abstand grösste Menge an radioaktiven Substanzen in die Umwelt gelangt. Es war mindestens zehnmal mehr als in Fukushima 2011.
2006 hat das zuständige wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen (Unscear), einen umfangreichen Bericht über die Auswirkungen der Verstrahlung nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl herausgegeben (siehe hier). Die Untersuchungen haben gezeigt, dass innerhalb der ersten zwanzig Jahren nach dem Unglück gut 6000 Fälle von Schilddrüsenkrebs beobachtet wurden, die mit grosser Wahrscheinlichkeit auf den Reaktorunfall zurückzuführen sind. Dabei waren fast ausschliesslich Kinder und Jugendliche betroffen. Gestorben sind in diesen zwanzig Jahren laut Unscear 15 Kinder.
Die Schilddrüsen-Todesfälle in Tschernobyl wären vermeidbar gewesen
Auch wenn jeder Tod eines Kindes natürlich tragisch ist: Eine solche Todesrate – weniger als ein Kind pro Jahr – ist ausserordentlich niedrig. Zudem wären diese Fälle vermeidbar gewesen, wenn die Behörden das Trinken von radioaktiv verseuchter Milch unmittelbar nach dem Unfall verhindert hätten. Denn radioaktives Jod verliert seine schädliche Wirkung rasch: Die Halbwertszeit beträgt nur acht Tage. Nach acht Tagen ist die Wirkung also nur noch halb so gross.
In Fukushima, wo der zweitgrösste Kernkraftwerk-Unfall geschah, liegen die Verhältnisse anders, weil dort ein grosser Teil der direkt betroffenen Bevölkerung evakuiert wurde. Denn bezüglich Schutz der Bevölkerung bei einer solchen Katastrophe geht es nicht nur um radioaktives Jod, sondern auch um die Strahlengefährdung durch Isotope von Xenon, Cäsium, Tellurium, Barium, Strontium etc.
In Fukushima ist kein einziges Kind gestorben
Dank Evakuierung und einem guten Warnsystem lag die Rate der Neuerkrankungen an Schilddrüsentumoren bei Kindern in Fukushima viel tiefer als in Tschernobyl: Innerhalb der ersten zehn Jahre wurden in Fukushima insgesamt nur 213 Fälle registriert. Der grösste Teil davon wurde operiert, gestorben ist kein einziges Kind.
Was bedeutet das nun für die Jodtabletten-Strategie der Schweiz? Erstens haben auch bei uns die Behörden realisiert, dass nur junge Leute durch I-131 gefährdet sind. Deshalb wird die Einnahme der Tabletten nur noch für Menschen unter 45 Jahren empfohlen. Meine Frau und ich können die Packungen also entsorgen.
Zweitens ist es völlig unplausibel, dass ein Tschernobyl-ähnliches Szenario in der Schweiz eintreten könnte. Wer das Gegenteil behauptet, hat keine Ahnung von den permanenten Nachrüstungsprogrammen in unseren Kernkraftwerken. Schliesslich beurteilt man die Sicherheit eines gut gewarteten modernen Autos auch nicht anhand eines DDR-Trabis aus den 1980-er Jahren.
Und drittens würde bei einem Fukushima-ähnlichen Unfall auch bei uns gemäss Notfallplänen eine Evakuation angeordnet, womit sich der Einsatz von Jodtabletten ohnehin erübrigt. Aber auch hier spricht sicherheitstechnisch alles dagegen, dass ein analoger Unfall in einem Schweizer Kernkraftwerk passieren könnte.
Erhöhung der Mortalität um 0,001 Prozent beim Horrorszenario
Und viertens zeigt ein Gedankenexperiment, dass die vermeintliche «Gefahr», vor der uns die Jodtabletten schützen sollen, völlig überschätzt wird: Nehmen wir wider jede Vernunft an, ein Tschernobyl-ähnlicher Unfall würde bei uns passieren und unsere Behörden reagierten ähnlich fahrlässig wie in der Sowjetunion. Dann würden die jährlich auftretenden 65 Todesfälle wegen Schilddrüsenkrebs (siehe Grafik) laut Unscear-Bericht um einen einzigen Fall erhöht: Im Vergleich zu den rund 70’000 Todesfällen insgesamt pro Jahr bedeutet das eine Erhöhung der Mortalität um 0,001 Prozent. Das ist völlig vernachlässigbar.
Warum also werden in der Schweiz Jodtabletten verteilt, obwohl das entsprechende Ereignis mit grösster Wahrscheinlichkeit nie eintrifft und die Schadensminderung selbst dann irrelevant klein ist? Man bekommt den Eindruck nicht los, dass die Tabletten vor allem die AKW-Angst am Kochen halten soll. Die Atomgegner lassen grüssen.
Das ist ein sehr interessanter , gut dokumentierter und informationsreicher Artikel von Prof. Martin Schlumpf. Vielen Dank!
Man könnte noch ergänzen, dass wir stets der Radioaktivität ausgesetzt sind (natürlichen und künstlichen Ursprungs). Daher füge ich noch eine aufschlussreiche Ergänzung bei (Quelle Kernkraftwerk Leibstadt): Die Wirkung einer Strahlendosis auf Lebewesen wird in der Masseinheit Sievert (Sv) ausgedrückt (früher in Rem). In der Schweiz beträgt die durchschnittliche Strahlenbelastung pro Person rund 5,6 Millisievert (Tausendstel-Sievert, mSv) pro Jahr, mit grossen individuellen Abweichungen je nach Wohnort. Drei Viertel dieser Strahlendosis sind natürlichen Ursprungs: kosmische und terrestrische Strahlung aus Boden und Fels sowie die Strahlung von Radongas in Wohnräumen. Weitere 21 Prozent stammen aus der Medizin und nur gerade 0,01 Prozent aus technischen Anwendungen. Aus den Schweizer Kernanlagen gelangen praktisch keine radioaktiven Stoffe in die Umwelt. Nur Personen, die in unmittelbarer Nähe wohnen, erhalten minime und gänzlich unbedeutende Dosen. Sie sind rund 400Mal kleiner als die natürliche Strahlendosis.