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Atomkraft? Ja, bitte!

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Erinnern Sie sich an den Sticker «Atomkraft? Nein Danke»? Es ist an der Zeit, diesen bekannten Slogan gegen Atomkraft in sein Gegenteil zu kehren.

Originalbeitrag «Schlumpfs Grafik, Folge 29» im Online-Nebelspalter vom 31. Januar 2022.

Ende letzten Jahres kam ein Paukenschlag aus der EU-Kommission: Sie empfiehlt Investitionen in neue Erdgas- und Kernenergie-Anlagen als nachhaltig, um in den nächsten dreissig Jahren das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen. Offensichtlich sind die wissenschaftlichen Fakten so stark gewesen, dass sie gegen den vehementen politischen Widerstand aus Deutschland und dessen Verbündeten Bestand gehabt haben.

Dieser Entscheid beeinflusst auch die Situation in der Schweiz. Es dürfte auch hier jetzt nicht mehr genügen, mit ein paar Standardsätzen die Atomenergie zu verteufeln. Allerdings wird es immer schwierig sein, rational und sachgerecht über diese Technologie zu debattieren, weil sie für die meisten Menschen ein Buch mit sieben Siegeln ist – eine Situation, die bei vielen Angst hervorruft. Trotzdem: Man braucht nicht genau zu wissen, wie ein Kernkraftwerk funktioniert, um die Vor- und Nachteile der Atomtechnologie verstehen zu können.

In der Schweiz ist die Wasserkraft prägend

Auch das spezifische Merkmal, das unsere Elektrizitätsversorgung definiert, ist einfach zu verstehen: Schweizer Strom wird noch für lange Zeit zu mehr als der Hälfte in Wasserkraftwerken erzeugt. Das bedeutet, dass im Winter, wenn der Bedarf steigt, der Ertrag aus dieser Produktionsquelle kleiner ist, als im Sommer. Und dieser Winterproblematik muss bei der Beurteilung aller ergänzenden Stromquellen Rechnung getragen werden.

In meinen letzten sieben Beiträgen habe ich die wichtigsten Punkte besprochen, nach denen Atom und Solar gemessen werden sollten. Jetzt fasse ich diese Kriterien in einer Grafik zusammen und bewerte sie in einem Punktesystem von 1 bis 10. Dabei bedeutet 1 sehr schlecht und 10 sehr gut. Selbstverständlich ist eine solche Bewertung mit vielen Unsicherheiten behaftet. Ich glaube aber, dass der Gewinn daraus, nämlich eine Gesamtübersicht zu bekommen, die Schwierigkeiten wettmacht.


(Click auf Grafik vergrössert diese) Ich gehe nun kurz auf jedes Kriterium einzeln ein, und erkläre meine Punktegebung.

1. Zuverlässigkeit

In jedem Markt, wo Kunden bedient werden, ist die Zuverlässigkeit der Produktlieferung ein zentrales Element. Im Strombereich aber ist sie matchentscheidend: Zu jeder Zeit müssen Angebot und Nachfrage übereinstimmen. Bei einer so kritischen Situation erstaunt die Sorglosigkeit, mit der ein Energieträger wie die Fotovoltaik, der systematisch ausfällt, behandelt wird. Nur weil seine Mittagsspitzen mit einem leichten Mehrbedarf schwach korrelieren, kommt er über eine 1 hinaus. Die Atom-Einspeisung dagegen erfüllt alle Ansprüche. Und im direkten Vergleich nach dem Kriterium der Arbeitsauslastung gewinnt Atom gegen Solar neun zu eins (mehr dazu hier).

2. Winterstrom

Mit diesem Kriterium entscheidet sich die zentrale Frage der Versorgungssicherheit. Die Stromerzeugung aus Schweizer Speicherseen läuft gegen Ende Winter immer mehr aus. Wie rasch dies geschieht, hängt aber massgeblich davon ab, wieviel Bandenergie aus andern Quellen in dieser Zeit produziert werden kann. Mit Atomstrom ist das perfekt möglich. Der saisonal bedingte Minderertrag aus Fotovoltaik jedoch verstärkt das Winterproblem der Wasserkraft auf die denkbar ungünstigste Art und Weise: Allein durch den Ersatz unserer Kernkraftwerke durch Fotovoltaik würde das Winterstromdefizit um das Dreifache anwachsen – ohne Elektrifizierung der Mobilität und der Heizungen (mehr dazu hier).

3. Materialbedarf

Physikalisch gesehen hat Kernenergie eine sehr viel höhere Energiedichte als Solarenergie. Als direkte Folge davon haben Atomanlagen einen viel kleineren Materialbedarf pro produzierte Kilowattstunde als Fotovoltaik. Da mehr Material immer aber auch mehr Fläche erfordert, bedeutet eine Energiewende mit starkem Fotovoltaik-Ausbau Ressourcen- und Flächenverschleiss. Zudem wird für die Produktion von Solarpanels eine ganze Reihe kritischer Stoffe benötigt (mehr dazu hier).

4. Klimafreundlichkeit

Im der neusten Studie der Vereinten Nationen, die mit Lebenszyklusanalysen der verschiedenen Energieträger arbeitet, schneidet die Fotovoltaik bei der Treibhausgas-Belastung im Jahr 2020 deutlich schlechter ab als die Kernenergie. Die Gesamtemissionen der verschiedenen Fotovoltaik-Modultypen schwanken zwischen 7,4 und 83 Gramm CO2-Äquivalent pro Kilowattstunde, bei einer Nuklearanlage betragen sie durchschnittlich aber nur 5,1 bis 6,4 Gramm. Damit führt der Atomstrom diese Rangliste an – sogar noch vor der Wasserkraft. Überall, wo Atomkraftwerke abgestellt werden, verschlechtert sich also die Klimabilanz (mehr dazu hier).

5. Abfälle

Kernkraftwerke produzieren hochradioaktive Abfälle, deren Strahlung gefährlich ist. Deshalb werden diese Abfälle in grossen dickwandigen Behältern gelagert – in der Schweiz im Zwischenlager in Würenlingen. Weil dort beim regelmässigen Strahlenmonitoring aber noch nie eine relevante Zusatzdosis gemessen wurde, kann das Problem der Lagerung radioaktiver Abfälle als gelöst bezeichnet werden. Zudem ist die Abfallmenge aus Kernkraftwerken pro Stromeinheit viel kleiner als bei Solaranlagen, und ihre Aktivität, also ihre Toxizität, nimmt rasch ab.

Ganz im Gegensatz zu den giftigen Chemieabfällen aus Solarpanels, Batterien und weiteren Speichern, die bei der Solarstromerzeugung anfallen. Allein die toxischen Elemente in Bergbauabfällen in Kupferminen haben höhere tödliche Dosen pro Kilowattstunde als hochradioaktive Abfälle. Zudem werden diese giftigen Schlämme in offenen Lagerbecken gesammelt, wo es immer wieder zu schlimmen Unfällen kommt.

Mit dem «Sachplan geologische Tiefenlager» ist das Endlagerkonzept für radioaktive Abfälle in der Schweiz technisch ausgereift und bereit für die Realisierung. Was noch aussteht, ist der Standortentscheid. Für den gesamten Sondermüll aus Solaranlagen haben wir aber keine Lösung in der Schweiz: Wir exportieren alles nach Deutschland (mehr dazu hier).

6. Sicherheit

Atomgegner rufen bei dieser Frage sofort: «Tschernobyl» und «Fukushima». Wer mit Tschernobyl kommt, tut aber so, als ob man die gravierenden Sicherheitslücken eines Trabi aus der Ex-DDR dazu verwenden könnte, Autos bei uns zu verbieten. Und auch bei Fukushima gibt es grundlegende Differenzen zu unseren Anlagen: Die betroffenen japanischen Reaktoren waren nicht mit genügend hohen Mauern gegen Tsunamis geschützt, es gab keine überflutungssicheren, gebunkerten Notstromdiesel, keine gefilterte Druckentlastung und keine Wasserstoffrekombinatoren, welche die Wasserstoffexplosion verhindert hätten. All das ist aber in unseren Reaktoren dank Nachrüstungen vorhanden: Fukushima kann bei uns nicht stattfinden.

Und selbst wenn doch ein solcher GAU eintritt, zeigt gerade Fukushima, dass die gesamte Lebensdosis an Strahlung sogar bei jemandem, der in der Kernzone des Unfalls weiter gelebt hätte, nicht höher ist, als bei vielen Einwohnern in den Schweizer Bergen. Wenn aber in Fukushima kein Mensch an den Folgen der radioaktiven Verstrahlung gestorben ist, und auch die Langzeitfolgen im «normalen» Bereich liegen, gibt es keinen Grund, Kernkraftwerke gefährlicher als Solaranlagen einzustufen (mehr dazu hier).

7. Primärenergie

Die Primärenergie zur Stromerzeugung mit Fotovoltaik, also die Sonnenenergie, ist unerschöpflich und kostet nichts: Solar erhält hier die Bestnote. Aber auch die Kernenergie liegt nicht schlecht. Erstens brauchen Kernkraftwerke gemessen am Stromertrag wenig Primärenergie. Zweitens reichen die bekannten Reserven und Ressourcen für mindestens 250 Jahre. Drittens wird eine zukünftige Generation von Reaktoren imstande sein, den schon bestehenden und neu anfallenden Abfall als Primärenergie wieder zu verwenden. Und viertens lässt sich angereichertes Uran für mehrere Jahre bei den Kraftwerken lagern (mehr dazu hier).

8. Kosten

Ein Kostenvergleich zwischen Atom und Solar ist nur sinnvoll, wenn er am Stromertrag gemessen wird. Weil dieser aber – siehe Kriterium 1 – bei Solar pro installierter Leistungseinheit neunmal tiefer ist, wirken sich die Preisabschläge bei Fotovoltaik-Modulen nur sehr abgeschwächt aus: Eine «Photovoltaikmarkt-Beobachtungsstudie» des Bundes von 2020 kommt zum Schluss, dass sich die Preise für Solaranlagen seit 2018 nicht mehr verändert haben.

Zudem wird durch diese Studie bestätigt, dass die Einzelfallbetrachtung einer Schweizer Fotovoltaik-Anlage (siehe hier) dem Schweizer Durchschnitt entspricht. Entscheidend bleibt aber, und das «vergessen» die Atomgegner meist, dass zu den gesamten Erstellungskosten einer Solaranlage auch noch die Kosten für Tag/Nacht- und Saisonspeicherung dazugerechnet werden müssen: So gerechnet ist in praktisch allen Fällen Atomstrom billiger als Solarstrom (mehr dazu hier).

Kernkraftwerke erfüllen ihren Job im Stromsystem besser

Kommen wir zum Fazit: Punkto Zuverlässigkeit der Versorgung, der Wintertauglichkeit und dem Materialbedarf schneidet die Kernenergie viel besser ab. Auch bei der Klimafreundlichkeit, den Abfällen und den Kosten hat sie die Nase vorne. Bei der Sicherheit ist es unentschieden und nur bei der Primärenergie gewinnt die Solarenergie. Gesamthaft betrachtet erfüllen also Atomkraftwerke ihren Job im Stromsystem besser als Fotovoltaik-Anlagen. 

«Atomkraft? Ja, bitte!» statt «Atomkraft? Nein Danke» ergibt sich als Konsequenz einer sachlich-rationalen Analyse, die alle wesentlichen Aspekte berücksichtigt. Ganz im Einklang mit der EU.

Atomkraft versus Fotovoltaik

In der Schweiz sollen Atomkraftwerke durch Fotovoltaik-Anlagen ersetzt werden. Daraus ergeben sich zahlreiche Probleme für die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit beim Strom – insbesondere im Winter. Um nicht in einen Blackout zu laufen, müssen die Vor- und Nachteile von Atom und Solar gegeneinander abgewogen werden. Martin Schlumpf geht in einer Reihe von Beiträgen zentralen Aspekten von Atomstrom nach, wie Speicherung, Sicherheit, Strahlung, Abfälle und Kosten – und illustriert diese wie immer mit einer einschlägigen Grafik.

3 Kommentare zu “Atomkraft? Ja, bitte!

  1. Guntram Rehsche
    Guntram Rehsche

    So also sieht die Atom-Renaissance aus (wörtliche Zitate aus der Medienmitteilungs des Nuklearforums):

    – «Im vergangenen Jahr sind sechs neue Kernkraftwerke mit dem Stromnetz verbunden worden, darunter auch ein SMR. Zehn Einheiten wurden 2021 stillgelegt.»
    – «Der zivile Kernkraftwerkpark der Welt umfasste beim Jahreswechsel 436 Reaktoren in 33 Ländern. Die installierte Leistung sank auf rund 388’600 MW (2020: 392’500).»
    – «Der Anteil der Kernenergie an der weltweiten Stromproduktion verblieb bei rund 10%»

    Möchte man beifügen: Es wurden also erneut mehr AKW stillgelegt als neue gebaut, weiterhin gibt es in den weltweit 200 Ländern nur deren 33, die auf Atomstrom setzen – und der Anteil der Kernreaktoren an der weltweiten Stromproduktion hat sich in den letzten 20 Jahren fast halbiert (von einst 17 auf nun 10%).

    Im Gegensatz dazu und allen Atom-Turbos zur Kenntnis gebracht: Solarenergie steigerte als völlige New Comerin ihren Anteil von 0 auf 3% und wird diesen in den nächsten zehn Jahren absehbar auf die Höhe der atomaren Energieproduktion erhöhen. Und schliesslich: Im vergangenen Jahr betrug der solare Zubau rund 200 Gigawatt Leistung, was der Stromproduktion von rund 20 grossen AKW entspricht. Das ist zwar gemäss dem St.Galler HSG-Professor Peter Hettich gar kein Strom – was ihn endgültig in den Rang eines Voodoo-Ökonomen versetzt. Alle sonstigen Abnehmer dieses Stroms – wie etwa auch CH-Grossunternehmen wie Migros, Coop, neuerdings auch Axpo und IKEA können demgegenüber einfach nur rechnen. Übrigens: gerade diese Unternehmen zeigen, dass ja längst nicht aller Solarstrom gespeichert werden muss – die behaupteten Systemkosten der Solarenergie also wesentlich tiefer liegen!“

  2. Keller Eduard
    Keller Eduard

    Die kürzliche Initiative von SVP und FDP zum Neubau von KKW ist wenig überlegt, wenn überhaupt. Ich glaube nicht, dass der Bau von KKW (z.B. Muster Leibstadt) möglich wird. Es sind neue Typen in Erprobung (glaublich Korea und China) und der Dual Fluid Reaktor, sofern mal ein erster Typ gebaut ist, sind Alternativen. Die Politik muss nicht nach Bern pilgern, das bringt nichts, wie wir gerade vernommen haben. In der Schweiz müssen die Fachleute zusammen mit den Politikern das Volk überzeugen, damit rasch vorwärts gemacht werden kann. Nur mit einer forcierten breit gesteuerten Überzeugungskraft (Vorteile/Nachteile) kommen wir weiter. Wind und Fotovoltaik sind dem Irrsinn sehr nahe, jedenfalls mit der geplanten Menge.

  3. Arturo Romer
    Arturo Romer

    Herr Martin Schlumpf liefert dem Leser mit diesem Artikel eine sehr gute, sachliche und verständliche Gesamtübersicht. Solche Beiträge sind sehr wichtig für die künftige Diskussion.

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