Die «Arena» von SRF hat irreführende Zahlen zum Anteil der Kernenergie am Schweizer Strommix verbreitet. Das Kleinreden der Bedeutung der Atomenergie wurde vom Bundesamt für Energie gutgeheissen.
Originalbeitrag im Online-Nebelspalter vom 15. Februar 2022.
Wie viel tragen unsere Kernkraftwerke zum Schweizer Strom bei? Die Schweizer Elektrizitätsstatistik des Bundesamtes für Energie (BFE) gibt Auskunft über die gesamte Landeserzeugung. Dort wird ausgewiesen, dass der Anteil der Kernkraftwerke am Gesamtmix im Jahr 2020 33 Prozent gewesen ist. Weiter entnimmt man dieser Statistik, dass ein reger Stromaustausch mit den umliegenden Ländern stattgefunden hat: Die Jahresbilanz der Strom-Einfuhr und -Ausfuhr ist genau erfasst.
Kann ich daraus nun ableiten, wie viel Atomstrom aus meiner privaten Steckdose kommt? Auf keinen Fall, denn sobald der Strom ins Netz eingespeist ist, vermischt er sich mit dem von allen anderen Quellen, und die Anteile sind nicht mehr bestimmbar.
20 oder 33 Prozent Anteil Atomstrom?
Gibt es also eine bessere Methode, um die Herkunft des Stromes zu bestimmen? Das BFE scheint dies zu glauben. Denn es ist verantwortlich für den folgenden Satz, der in einem Erklärungs-Video in der letzten «Arena» von SRF angeführt wurde: «Zusammen liefern unsere vier Kernkraftwerke 20 Prozent des Stroms an die Schweizer Endverbraucher.» Hoppla: Hier sind es plötzlich 20 Prozent, während die offizielle Statistik des Bundes 33 Prozent angibt.
Wie ist das möglich? Das BFE führt seit einiger Zeit eine neue Art von Strom-Statistik (siehe hier). Darin werden Daten zum sogenannten Strom-Liefermix gesammelt, die dann publizistisch als «Strom aus Schweizer Steckdosen» präsentiert werden. Wie soll es aber plötzlich doch möglich sein, dass man bis zu den Konsumenten nachweisen kann, woher der Strom stammt, was aus der Elektrizitätsstatistik nicht eruierbar ist?
Verwirrende «Herkunftsnachweise»
Es läuft über Zertifikate. Die Daten, die das BFE in dieser Statistik sammelt, haben nichts mit der physikalischen Realität des Stroms zu tun, sondern sie weisen nach, wo die Stromversorger für ihren eingekauften Strom zusätzlich ein Zertifikat für grüne Stromproduktion erstanden haben. Verwirrend ist, dass diese Zertifikate den Namen «Herkunftsnachweise» tragen: Denn sie weisen nicht die Herkunft des effektiven Stroms nach, sondern nur diejenige der Zertifikate.
Da der Handel von Strom und Zertifikaten aber völlig unabhängig voneinander funktioniert, kann ein Schweizer Anbieter zum Beispiel deutschen Kohlestrom einkaufen, hier ins Netz einspeisen und zusätzlich ein Zertifikat für Wasserstrom aus Island kaufen. Das ermöglicht ihm, den Kohlestrom statistisch als grünen Strom zu deklarieren. Strom aus isländischen Wasserkraftwerken wird aber niemals bei uns ankommen: Zwischen Island und Europa gibt es keine einzige Stromleitung.
Strom, der bei uns nie ankommt
Man muss aber gar nicht so weit gehen: Auch Strom aus spanischen Windparks, französischen Solaranlagen oder norwegischen Wasserkraftwerken kommt physikalisch nie bei uns an, wird aber trotzdem via Zertifikate-Handel in dieser Herkunftsnachweis-Statistik als Schweizer Importstrom behandelt. Und schliesslich zeigt sich die Absurdität dieser Kennzeichnung dadurch, dass ausgerechnet Deutschland, von wo wir effektiv am meisten importieren, in der Zertifikatestatistik praktisch nicht existiert: Nach BFE ist der Anteil an Kohlestrom 2020 auf ein Viertel Prozent gesunken.
Es mag für das BFE intern durchaus nützlich sein, eine solche Zertifikatestatistik zu führen, und mit dem entsprechenden Handel die Investitionen in regenerative Energien zu fördern. Dass aber die Zahlen aus dieser Zusammenstellung ausgerechnet als «Strom, der aus Schweizer Steckdosen stammt» deklariert wird, ist ein ungeheurer Etikettenschwindel. Zudem wird das Publikum durch die Verbreitung dieser irreführenden Zahlen, wie das in der «Arena» geschehen ist, an der Nase herumgeführt.
Stromversorgung nicht als Schreibtischkram missverstehen!
Und für die Diskussion um die Energiewende ist es verheerend, wenn mit solchen Zahlen suggeriert wird, dass durch die Ausserbetriebnahme der AKW viel weniger Strom ersetzt werden muss, als es in Wahrheit der Fall ist.
Die einzig sinnvolle Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem Anteil Atomstrom am Gesamtmix findet sich in der Elektrizitätsstatistik: Der Strom aus unseren Kernkraftwerken macht im Jahr 2020 33 Prozent der Landeserzeugung, 35 Prozent der Nettoerzeugung (nach Abzug des Verbrauchs für die Speicherpumpen) und 41 Prozent des Endverbrauchs aus.
Auf das BFE sollte dringend Druck ausgeübt werden, dass es unsere Stromversorgung als physikalisches System und nicht als Schreibtischkram versteht.
Das Bundesamt für Energie scheint die Stromwirtschaft in elektrische Energie und „politische Energie“ zu unterteilen, arbeitet also mit einer doppelten Buchhaltung. Die reale Seite bildet die von den Kraftwerken produzierte und genau gemessene elektrische Energie ab, damit können Fabriken betrieben, Kaffee gekocht und Elektroautos geladen werden. Andererseits gaukelt das Zertifikatsunwesen eine virtuelle Realität vor; es handelt sich um politische „Papierenergie“. Damit können Beamte beschäftigt, Statistiken erstellt um an der SRF-Arena glorreich, respektive politisch irreführend, präsentiert zu werden; unter Kosten- und Entschädigungsfolge nota bene.
„Strom aus Schweizer Steckdosen“ ….
Vor zig Jahren habe ich in der NZZ gelesen, es gäbe ein neues Gerät, einen sogenannten „Astrosep“ (=Atomstromseparator, resp. Atomstromfilter). Als Zwischenstecker verhindert er, dass Atomstrom aus dem Netz entnommen werden kann.
Bei mir: zuerst ungläubiges Kopfschütteln, dann ein Blick auf’s Zeitungsdatum, dann die Erleuchtung: es war ein 1. April …
Gewisse Leute führen sich auf, wie wenn jederzeit 1. April wäre.
Was können wir dagegen tun? Einen PR-Fachmann zuziehen? oder einen Anwalt? oder …
Ich jedenfalls würde eine derartige Aktion sehr begrüssen und auch gerne nach Möglichkeit unterstützen.
Interessanter Aspekt ! Ich frage mich welchen Ländern werden diese EE Anlagen/Produktion angerechnet ? Einerseits finanziert z. Bsp. die CH WKA in Deutschland und das BfE rechnet die produzierte Leistung der EE Leistung der CH Produktion an, obwohl die gesamte Produktion der WKA ins D Netz gespiesen wird. Entsprechend dürfte D die WKA Leistung für sich gutschreiben. Gibt’s hier eine Doppelbuchung – einmal als buchhalterischer CH WKA/EE Beitrag und anderseits als effektiver WKA in’s D Netz ?
Ausgezeichnet, Herr Prof. Martin Schlumpf. Vielen Dank für diese Klarstellung. Viele Bürgerinnen und Bürger sind Ihnen für diese Wahrheit dankbar. In Bern macht man scheinbar Gebrauch von einem alten Sprichrwort: „Der Zweck (Veteuflung und Verbot der Kernenergie) heiligt die Mittel (= Lügen)“?