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Die Artenvielfalt war noch nie so gross wie heute

Pro natura

Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 58“ im Online-Nebelspalter vom 31. Oktober 2022 zu lesen.

Es gab wohl noch nie eine Zeit, in der man sich so stark um den Zustand der Umwelt gesorgt hat, wie die heutige. Dank hohem Wohlstandsniveau in den entwickelten Ländern gibt es eine wachsende Umweltbewegung, die sich für intakte Ökosysteme einsetzt: insbesondere für eine reiche Biodiversität, also eine grosse Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten. In letzter Zeit mehren sich aus diesen Ökokreisen allerdings die Stimmen, die vor einem drohenden Artenverlust warnen.

Was wichtig ist:

– Seit Beginn des Lebens vor mehr als 500 Millionen Jahren gab es noch nie eine so reiche Biodiversität wie heute. 
– Und dies trotz fünf grosser Massenaussterben in dieser Zeit, die viele Arten vollständig zerstörten.
– Als Ursachen für diese Katastrophen vermutet man Meteoriteneinschläge oder Vulkanismus, die zu massiven Klimaveränderungen geführt haben – längst bevor der Mensch die Bühne betrat.

Ich gehe der Frage der Artenentwicklung zuerst in einem möglichst langfristigen Kontext nach.

Wann hat das Leben von Pflanzen und Tieren begonnen? Nach einem dramatischen Zwischenspiel, in dem unser Planet vollständig mit Eis überdeckt war («Snowball Earth») und die ersten einfachen Lebensformen fast ganz ausgestorben waren, bekam das Leben vor gut 550 Millionen Jahren eine zweite Chance: Nach einer starken Erwärmung kam es in den riesigen Ozeanen zum ersten Mal in der Erdgeschichte zur Bildung komplexer mehrzelliger Organismen: den Pflanzen und Tieren.

Die Zahl der Arten hat sich vervierfacht

Dieser jüngste Teil der Erdgeschichte hat vor 542 Millionen Jahren begonnen und wird als Phanerozoikum bezeichnet, was «Zeitalter des sichtbaren Lebens» bedeutet. Aus fossilen Resten der gestorbenen Lebewesen haben Paläobiologen die Biodiversität in den Meeren – wo das Leben entstanden ist – anhand der Anzahl biologischer Gattungen so weit wie möglich rekonstruiert. Die folgende Grafik zeigt diese Entwicklung.


Die Zeitskala unten in Millionen Jahren verläuft von links nach rechts, von vor 542 Millionen Jahren bis Null gleich heute, oder vom Kambrium (Cm) bis zum Neogen (N). Die Zahl der biologischen Gattungen (Genera) ist nach oben in Tausenden angegeben. Dabei unterscheiden die Wissenschaftler zwischen allen vermuteten (grau) und den besser erforschten Gattungen (grün). Der Langzeittrend für die grünen Zahlen ist als orange Linie eingetragen.

Fünf katastrophale Massenaussterben

Nachdem sich in den ersten 100 Millionen Jahren etwa tausend Gattungen etablieren konnten, blieb diese Zahl über 300 Millionen Jahre mehr oder weniger konstant, bevor sie in einer 150-Millionen-jährigen Periode bis auf das Vierfache anwuchs. Dieser übergeordnete Trend wurde aber immer wieder durch grössere und kleinere Einbrüche unterbrochen. Die fünf grössten davon – man spricht von Massenaussterben, von den «big 5» – sind in der Grafik mit gelben Pfeilen eingetragen.

Am schlimmsten war das dritte Massenaussterben am Ende der Perm-Periode vor rund 250 Millionen Jahren. Nachdem die erstmalige Entstehung von Landpflanzen zu einem raschen Rückgang der CO2-Konzentrationen geführt hatte, beendete eine erneute Vereisung grosser Flächen der Erde das Leben von bis zu fünfzig Prozent aller Gattungen: eine wahrhaft apokalyptische Katastrophe.

Am besten bekannt ist sicher das fünfte und letzte Massenaussterben vor 65 Millionen Jahren, das die Kreide-Periode beendete: Man vermutet als Auslöser den Einschlag eines Asteroiden auf der Halbinsel Yucatán (Mexiko), der zur vollständigen Auslöschung der Dinosaurier führte, was den Weg freimachte für das Aufblühen der Säugetiere.

95 Prozent alle je existierender Gattungen sind ausgestorben

Auf der nächsten Grafik ist dieselbe Entwicklung im Phanerozoikum dargestellt nach dem Kriterium der Intensität des Aussterbens: Also in Prozent der Gattungen die im Vergleich mit der Vorperiode ausgestorben sind.

Sehr klar ist hier das dritte und schlimmste Massenaussterben im Übergang von Perm zu Trias (P-Tr) zu erkennen. Es entpuppt sich als schrecklicher Höhepunkt einer etwa zwanzig Millionen Jahre dauernden Aussterbe-Periode mit durchschnittlich 30 bis 50 Prozent Genera-Verlusten. Danach folgt ein Abschnitt, in dem nur etwa 5 Prozent der Gattungen verschwunden sind. Das Dinosaurier-Aussterben vor 65 Millionen Jahren im Übergang von Kreide zu Paläogen (K-Pg) hat dann im Schnitt um die 30 Prozent der Lebewesen eliminiert.

Die Aussterbensrate ist generell gesunken

Wir sehen hier, dass das Aussterben von Gattungen der natürliche Lauf der Natur ist. Dieses Faktum ist unbestritten: Man geht heute davon aus, dass etwa 95 Prozent aller jemals existierenden Lebewesen ausgestorben sind.

Allerdings geschieht dies in dramatisch unregelmässigem Tempo, diktiert durch massive Veränderungen in den klimatischen Bedingungen, die ihrerseits durch komplexe kosmische und terrestrische Phänomene gesteuert sind. Vieles davon können wir auch heute noch nicht befriedigend erklären, oft liegen verschiedene mögliche Ursachen im wissenschaftlichen Wettstreit miteinander.

«National Geographic» warnt vor sechstem Massenaussterben

Sicher aber hat sich das Tempo des Aussterbens im Langzeittrend deutlich verlangsamt. Das zeigt die zweite Grafik klar: Die Prozentzahlen der ausgestorbenen Gattungen, also die Höhe der Balken, nehmen generell nach rechts ab. Und mit dieser verkleinerten Aussterbensrate kommt es in den letzten 150 Millionen Jahren zum Anstieg der Gattungsvielfalt, was auf der ersten Grafik sichtbar ist.

Schon 1999 wurde die Entwicklungskurve der Zahl der Lebewesen im Phanerozoikum (Grafik 1) sehr prominent in der Februar-Nummer des Magazins «National Geographic» präsentiert – allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Die nächste Grafik zeigt den Beitrag aus dem «National Geographic» von 1999:


Neben der mehr oder weniger ähnlich verlaufenden Kurve der Zahl der biologischen Familien (in Grafik 1 waren es Gattungen), in der die Vervierfachung bis zur Gegenwart ebenfalls sichtbar ist, sind die fünf grossen Massenaussterben mit rot eingerahmten Zahlen markiert. Darüber hinaus aber wird rechts oben noch ein sechstes Massenaussterben angegeben (rot markiert), das jetzt im Gange sei. Dazu heisst es in der rot umrandeten Erklärbox: «Wissenschaftler warnen, dass ein sechstes Massenaussterben durch die Menschheit angetrieben wird.»

Keine Beobachtungsdaten zum sechsten Aussterben

Der Ökologe Patrick Moore, Gründungsmitglied von Greenpeace und späterer Kritiker dieser Organisation, zeigt diese Grafik in seinem Buch «Fake Invisible Catastrophes and Threats of Doom» (siehe hier). Dort berichtet er, dass er 1999 die Redaktion von «National Geographic» angefragt habe, warum die absteigende Linie beim sechsten Massenaussterben unscharf gezeichnet ist und ob der Redaktion eine biologische Familie bekannt sei, die tatsächlich in dieser Zeit ausgestorben ist. 

Im Antwortschreiben von «National Geographic» findet man auf beide Fragen keine direkte Antwort. Es wird aber betont, dass die Redaktion eng mit spezialisierten Wissenschaftlern zusammengearbeitet habe, von denen die meisten das Konzept eines sechsten Massenaussterbens unterstützen – obwohl noch unklar sei, in welchem Zeitrahmen ein solches stattfinden werde. Es gibt also keine Evidenz für ein solches weiteres Aussterben, sondern lediglich die Befürchtung einzelner Forscher, dass ein solches eintreten könnte.

In meinem nächsten Beitrag in zwei Wochen werde ich mich detailliert mit der Frage beschäftigen, ob es heute schon Anzeichen eines sechsten Massenaussterbens gibt.

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