Am häufigsten kommt der Sensenmann im Winter. Im Gegensatz zu früheren Zeiten trifft er in unserer modernen Welt aber fast nur noch Alte und Gebrechliche – das war auch bei Covid-19 nicht anders.
Originalbeitrag «Schlumpfs Grafik, Folge 20» im Nebelspalter vom 15. November 2021.
Versucht man das Ausmass einer Gesundheitskrise zu messen, ist die Zahl der Todesopfer quasi die harte Währung. Der unvorbereitete Verlust eines Familienmitglieds oder enger Freunde gehört zum Tragischsten, was uns zustossen kann. Eine vergleichende längerfristige Einordnung solch tragischer Schicksale ist aber nur mit einer Analyse der allgemeinen Sterblichkeit möglich.
Dies bietet die Statistik über laborbestätigte Todesfälle von Covid-19, die das Bundesamt für Gesundheit führt, aber nicht: Einerseits ist damit kein Vergleich mit der Situationen vergangener Jahre möglich, und andrerseits krankt sie an Unzulänglichkeiten der Definition von Corona-Todesursachen. Zielführender ist deshalb die vom Bundesamt für Statistik herausgegebene Erhebung über «Todesfälle nach Altersklasse, Woche und Kanton». Mit den dort publizierten Wochen-Daten, die bis ins Jahr 2015 zurückreichen, lässt sich das Ausmass der Corona-Krise in einem objektiven Umfeld betrachten.
Zwei Wellen von Übersterblichkeit
In der folgenden Grafik ist der Verlauf aller Todesfälle in der Schweiz, gruppiert nach den drei höchsten Altersklassen, im Zeitraum von 2015 bis 2021 (Woche 43) dargestellt:
(Click auf Grafik vergrössert diese) Die drei «Bänder» der Grafik repräsentieren die Zahlen der drei Altersklassen «80 Jahre und mehr» ganz oben, «65 bis 79 Jahre» in der Mitte und «40 bis 64 Jahre» unten. In jeder dieser Altersklasse werden die Jahre 2015 bis 2021 mit separaten Farben dargestellt: Die fünf Referenzjahre 2015-19 pastellfarbig mit dünnem Strich, die beiden Corona-Jahre dick: 2020 schwarz und 2021 rot. Horizontal sind die 52(53) Wochen des Jahres, vertikal die Anzahl Todesfälle pro Woche abzulesen.
Schon nach kurzem Betrachten zeigt die Grafik zwei zentrale Befunde: Erstens gibt es zwei Wellen von Übersterblichkeit. Eine erste kleinere im Frühling 2020 und eine wesentlich grössere von Herbst 2020 bis Ende Januar 2021. Zweitens sind in beiden Wellen jeweils die Über-80-Jährigen fast allein und massiv betroffen, während bei den 65-79-Jährigen noch Spuren erkennbar sind, die bei den Unter-65-Jährigen aber vollständig verschwinden.
Übersterblichkeit von 5 Prozent in der ersten Welle
In der ersten Welle von Woche 11 bis 18 fällt bei den Über-80-Jährigen auf, dass sie sich vom Ausmass her kaum von den Grippewellen von 2015 (orange), 2017 (violett) und 2018 (hellgrün) unterscheidet. Gemessen am fünfjährigen Referenzdurchschnitt für die ersten 18 Wochen zeigt diese Welle von 2020 zwar eine Übersterblichkeit von 5 Prozent – in absoluten Zahlen liegt sie aber hinter der Grippewelle von 2015. Und der Verlauf von 2021 liegt sogar 2 Prozent unter dem Durchschnitt.
Eine feine Differenzierung zeigt der Blick in die Gruppe der 65-79-Jährigen: Weil die Grippejahre im gleichen Zeitraum hier kaum aus der Reihe tanzen, fallen die Coronajahre etwas mehr ins Gewicht. Und weil bei den Unter-65-Jährigen überhaupt keine Veränderungen zu sehen sind, kann man leicht nachvollziehen, dass in der Gesamtabrechnung, also beim Total aller Todesfälle, die Sterblichkeit nur wenig unter derjenigen der Über-80-Jährigen liegt: In den ersten 18 Wochen liegt sie für 2020 bei 4 (statt 5) Prozent.
Die zweite Welle dauerte doppelt so lange
In einem Punkt differiert die 2020-Coronawelle aber von den Grippewellen: Sie beginnt erst Anfang März – zu einem Zeitpunkt, wo die Grippe keine Rolle mehr spielt. Gevatter Tod drangsaliert uns also in Zukunft vielleicht auch noch um den Frühlingsanfang herum.
Ein ganz anderes Bild zeigt die zweite Welle, die in Woche 42 beginnt – zu einer Zeit, wo die Sterblichkeit in den höchsten Altersklassen zwar leicht zu steigen beginnt, aber nicht in diesem gewaltigen Ausmass: Diese zweite Welle dauert doppelt so lang wie die erste und hat ein etwa 7-wöchiges Plateau als Höhepunkt. Die Zahlen bei den Über-80-Jährigen sind denn auch erschreckend: Von Anfang Oktober bis zum Jahresende gab es zusätzlich zu den erwarteten 8920 Todesfällen noch 6983 mehr – das entspricht einer Übersterblichkeit von über 70 Prozent.
9100 zusätzliche Tote
Und da hier die Gruppe der 65-79-Jährigen mit bis gegen 50 Prozent mehr Todesfällen auch deutlich betroffen sind, summiert sich diese zweite Coronawelle zu einem Gesamttotal von gegen 60 Prozent Übersterblichkeit: Das sind gut 9100 zusätzliche Tote allein von Oktober bis Dezember 2020. Wie die Grafik aber auch zeigt, sind die Unter-65-Jährigen davon aber praktisch nicht betroffen.
Und was ist mit der dritten, vierten und fünften Welle von 2021? In der hier verwendeten harten Währung der allgemeinen Sterblichkeit gibt es sie (rot) in vergleichbarer Grösse nicht: Gemessen an diesem Massstab gibt es 2021 keine Krisensymptome mehr. Dies sieht natürlich bei andern relevanten Kriterien, etwa der Belegung von Intensivbetten in Spitälern, anders aus. Und im Detail könnte man bei den Über-80-Jährigen die Wochen 36/37 diskutieren, deren Verlauf stark an die Hitzewelle von 2015 (orange) in den Wochen 27 bis 29 erinnert.
2021 keine Auffälligkeiten bei der Sterblichkeit
Welche Konsequenzen sind aus dieser Grafik abzuleiten? Einmal sollte uns bewusst sein, dass wir gerade jetzt in derselben Jahreszeit sind, wo 2020 der massive Ausbruch stattgefunden hat. Weil wir die Gründe dafür nicht genau kennen, liegt die Schlussfolgerung nahe, jetzt besonders vorsichtig zu sein, was für die Verwendung des Zertifikats in einem sinnvollen Rahmen spricht. Auf der andern Seite zeigt das ganze Jahr 2021 zu keinem Zeitpunkt eine Auffälligkeit bei der Sterblichkeit, woraus sich gute Gründe für die Beendigung des Corona-Ausnahmezustandes ergeben. Und schliesslich sollten wir alle Massnahmen darauf ausrichten, dass wir die jüngeren Menschen unter 65 Jahren nicht unangemessen belasten.
Sehr gute Arbeit. Wahrscheinlich wird sie jeder nach seinem Gusto interpretieren.
Ich für meinen Teil sehe es so:
dank Impfungen, Maskentragpflicht, Abstand-und Hygieneregeln sowie einem guten Gesundheitswesen sind wir diesen Sommer einigermassen über die Runden gekommen. Nicht zuletzt dank vieler Bürger, die aus eigenem Antrieb Vorsicht walten lassen, etwa durch Einhalten mehr als der vorgeschriebenen Abstände (z.B. auf Wanderwegen oder in Restaurants), durch Meiden stark frequentierter Züge, Lokale, etc.
Hätten wir das alles nicht getan, wäre die Situation schlimmer, wie Beispiele aus andern Ländern beweisen. Hätten wir uns alle impfen lassen, könnten wir zur Normalität zurückkehren. An sich sagen alle, dass sie letzteres wollen, trotzdem kämpft mindestens ein Viertel der Bevölkerung auf wirksame (und teils laute) Weise dagegen (und nimmt damit die schweigende Mehrheit in Geiselhaft).
Es ist schon fast tragikomisch, wenn Leute der seit 20 Jahren erforschten MRNA-Technologie jede Menge Gesundheitsrisiken andichten, die längst wissenschaftlich widerlegt sind, aber gleichzeitig bedenkenlos Deos, Shampoos, Convenience Food und dgl. konsumieren, bei denen wissenschaftlich erwiesen ist, dass sie zu genau diesen Gesundheitsrisiken führen können.
Wenn Dürrenmatt noch am Leben wäre, würde er wahrscheinlich eine beissende Satire schreiben
Sehr einverstanden: Es liegt offenbar tief in unserer DNA, dass Viele von uns Risiken so schlecht einschätzen können und unbeeindruckt sind, vom neusten Stand der Wissenschaft.