Heute sterben weltweit 83 Prozent weniger Kinder unter fünf Jahren als noch 1950. Das beweist, dass sich die Lebensqualität der Menschen enorm verbessert hat – sogar in Afrika.
Originalbeitrag im Online-Nebelspalter vom 17. Februar 2022.
Vor die Wahl gestellt, welcher Einflussfaktor Lebensqualität am besten beschreibt, würden sich Ökonomen wohl für das Bruttoinlandprodukt (BIP) oder die verfügbaren Löhne entscheiden. Das sind gute Kriterien, und doch haben beide Mängel: Auch steigende Kriminalität zum Beispiel führt wegen mehr Polizei, mehr Sicherheitsausgaben und mehr Spitaleintritten zu einem höheren BIP, und eine Lohnstatistik sagt nichts aus über wachsende Vermögensungleichheit.
Etwas besser würde wahrscheinlich der Human Development Index (siehe hier) abschneiden, also der UNO-Index der menschlichen Entwicklung, der auch als Wohlstandsindikator bezeichnet wird. Hier wird das BIP durch die Indikatoren Lebenserwartung und Zugang zu Bildung ergänzt. Weil das Gesamtbild aber doch sehr stark vom BIP abhängt, gibt es kaum Unterschiede zu diesem allein.
Säuglingssterblichkeit ist ein besserer Gradmesser als das BIP
Deshalb schlägt der kanadische Umweltwissenschaftler Vaclav Smil in seinem Buch «Numbers Don’t Lie» (Zahlen lügen nicht) die Säuglingssterblichkeit als bestes Kriterium für die Beurteilung unserer Lebensbedingungen vor – gemeint ist damit die Anzahl Kinder, die in ihrem ersten Lebensjahr sterben. Tatsächlich gibt es gute Gründe für diese Wahl, der ich mich anschliesse.
Denn um eine tiefe Säuglingssterblichkeit zu erreichen, müssen die Länder in mehreren Bereichen gut aufgestellt sein: Beim Gesundheitswesen ganz allgemein, spezifisch bei der vorgeburtlichen, geburtlichen und nachgeburtlichen Pflege, bei guter Ernährung von Mutter und Kind, bei der hygienischen Vorsorge und der Familienbetreuung, bei genügend Bildungsangeboten für Frauen, ausreichenden finanziellen Mitteln, guter staatlicher Infrastruktur und sozialer Sicherung.
Über Jahrtausende war die Kindersterblichkeit brutal hoch
Wenn auch nur einer dieser Bausteine wegbricht, kann sich das auf das äusserst kritische erste Lebensjahr eines Menschen, wo er noch völlig hilflos ist, sehr nachteilig auswirken. Was wissen wir aus der Geschichte zu diesem Thema? Wie sind die Menschen früher damit zurechtgekommen, wie sieht es heute aus? Die folgende Grafik gibt einen einzigartigen Überblick über die Säuglings- und Jugendsterblichkeit in den letzten 2’400 Jahren.
(Click auf Grafik vergrössert diese) Die Autoren von «Our World in Data» haben hier die Zahlen aus vielen historischen Untersuchungen mit denen aus aktuellen UNO-Berichten in einem Bild vereint (siehe hier). Dabei veranschaulichen die oberen roten Punkte und Linien die Sterblichkeit der Kinder bis 15 Jahre, und die unteren blauen Punkte und Linien diejenige der Säuglinge bis zum Ende des ersten Lebensjahres. Auf der x-Achse läuft die Geschichte seit 400 vor Christus bis ins Jahr 2017 ab, der Abstand auf der y-Achse zeigt an, wie viele Prozent von allen neugeborenen Kindern vor dem ersten oder dem fünfzehnten Lebensjahr gestorben sind.
In der Moderne sinkt die Kindersterblichkeit um 90 Prozent
Auch wenn die Grafik auf den ersten Blick unübersichtlich scheint, ist ihre Hauptbotschaft doch sehr einfach:
1. Während mehr als 2000 Jahren, bis ins 19. Jahrhundert hinein, ist im Durchschnitt praktisch unverändert einer von vier Säuglingen und eine von zwei Jugendlichen gestorben;
2. Danach sinkt die Mortalitätsrate in beiden Kategorien Schritt für Schritt um 90 Prozent.
Zum ersten Punkt: Bei der Säuglingssterblichkeit (blau) haben die Forscher eine durchschnittliche Mortalitätsrate von 26,9 Prozent für die ganze Zeit bis 1900 gefunden, bei der Jugendsterblichkeit (rot) eine solche von 46,2 Prozent. Anschaulicher dargestellt heisst das, dass von 1000 Neugeborenen im ersten Altersjahr 269 (einer von vier), und bis zum fünfzehnten Altersjahr 462 (eine von zwei) verstorben sind. Interessanterweise gilt dies mehr oder weniger für alle untersuchten Kulturen an den verschiedensten Orten auf dieser Erde (alle farbigen Punkte stehen für eine Studie zu diesem Gebiet): Von den Griechen, Römern und Ägyptern, über die Mexikaner und Japaner bis hin zu den Chinesen.
Zum zweiten Punkt: Ganz rechts in der Grafik sieht man den rasanten Rückgang der globalen Kindersterblichkeit seit etwa 1800, mit zunehmender Beschleunigung im 20. Jahrhundert. Diese Entwicklung gleicht einem «Wunder»: Erst mit der Reformation, der Aufklärung und dem Aufkommen der Wissenschaften, der industriellen Revolution und dem Entfesseln fossiler Energiequellen, der Urbanisierung und dem globalen Handel war die Menschheit zum ersten Mal in der Lage, die schreckliche Geissel des Wegsterbens so vieler Kleinkinder (und auch Mütter) massiv zurückzudrängen.
Unterschiedliches Tempo der Verbesserungen
Dass diese beispiellose Verbesserung unserer Lebensqualität aber nicht überall im gleichen Tempo abgelaufen ist, zeigt die nächste Grafik, die den Zeitraum von 1950 bis 2019 abdeckt und die globale Entwicklung mit derjenigen in den verschiedenen Kontinenten vergleicht.
(Click auf Grafik vergrösser diese)
Der Weltdurchschnitt ist seit 1950 um 83 Prozent gesunken
In dieser Grafik (siehe hier) ist die Kindersterblichkeit bis zum fünften Altersjahr thematisiert. Die globale Gesamtkurve (World, braun) sinkt im beobachteten Zeitraum von 22,3 auf 3,8 Prozent, das entspricht einer Reduktion von 83 Prozent. 3,8 Prozent Sterblichkeit im Jahr 2019 heisst, dass aus 1000 neugeborenen Kindern 38 sterben, bevor sie fünfjährig werden.
Die Verbesserungen kommen langsam überall an
Vergleicht man die Entwicklungen in den verschiedenen Kontinenten, fällt erstens auf, dass die Kindersterblichkeit überall deutlich abgenommen hat: am stärksten in Asien mit minus 88 Prozent, und am schwächsten in Nordamerika, dort aber von einem sehr tiefen Niveau aus.
Und zweitens – fast noch wichtiger – haben sich die Unterschiede zwischen den Kontinenten sehr stark verringert: Während 1950 bis 1980 Nordamerika und Europa weit vor Asien und Afrika waren, findet seit 1990 ein kontinuierlicher Angleichungsprozess statt. Die stark gespaltene Welt der 60er- und 70er-Jahre ist heute weitgehend verschwunden – mit Ausnahme von Sub-Sahara-Afrika, wo praktisch alle Länder mit den höchsten Sterblichkeitsraten liegen.Aber auch in Afrika sind die Werte um fast 80 Prozent gesunken und liegen heute tiefer als in Europa um 1950.
Weitere Abhilfe ist nötig
Dieser kurze Überblick zeigt eindrücklich, wie sich die Fähigkeiten der Menschen ab dem 19. Jahrhundert sukzessive verbessert haben, ihren Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Sicherlich aber sind wir damit noch lange nicht am Ende. Noch immer herrschen an vielen Orten in Asien und Afrika Bedingungen, die nach baldiger Abhilfe schreien. Dass noch immer an jedem Tag 15’000 Kinder weltweit sterben, darf nicht akzeptiert werden. Und doch ist es auch wichtig zu sehen, dass wir seit vielen Jahrzehnten auf dem richtigen Weg sind.
Ein ausgezeichneter Artikel. Herr Martin Schlumpf befasst sich hier sehr seriös mit einem der grössten heutigen Probleme der Menschheit. Es ist sicher sehr positiv, dass die Kindersterblichkeit seit 1950 massiv gesunken ist. Trotzdem ist es unglaublich, extrem traurig und besorgniserregend, dass heute noch täglich weltweit rund 15’000 Kinder sterben. Als Pensionierter bekämpfe ich seit 20 Jahren vor Ort die extreme Armut in Afrika. Ich habe sehr viele Primarschulen, Brunnen, Wasserversorgungen und grosse Ackerfelder realisiert (viele Freunde haben mich dabei grosszügig unterstützt). Zentral ist nach meiner Ansicht die Alphabetisierung. Kinder, welche lesen, schreiben und rechnen können, werden mittelfristig auch die Bedeutung der Geburtenkontrolle verstehen. Heute leben beinahe 8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Im Jahre 2100 könnten es 10 Milliarden sein! Zuviel! Die grössten Probleme der armen Welt sind heute: Analphabetismus, Wassermangel, Energiemangel, Hunger, mangelnde Sanitätsversorgung, grosse Korruption auf allen Stufen, Terrorismus, Kriege, religiöse Fanatismen, usw.