Energie Klima Politik

Die Zukunft der Kernenergie – Teil 1

Olkiluoto

Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 72“ im Online-Nebelspalter vom 15. Mai 2023 zu lesen.

Gemäss den Gegner hat die Kernenergie viele Nachteile: Sie warnen vor dem Risiko von Kernschmelzunfällen (Freisetzung von Radioaktivität), vor dem Klumpenrisiko für die Versorgungssicherheit bei Ausfällen, vor zu hohen Investitionskosten grosser Kernkraftwerke, vor der Endlichkeit der Uranressourcen oder vor dem angeblich ungelösten Abfallproblem. Zudem monieren sie, dass neue Kernkraftwerke in der Schweiz erst in Jahrzehnten einsatzbereit wären und deshalb bei der Energiestrategie 2050 keine Rolle spielen könnten. Zu all diesen Einwände liefern die rund 160 Kernkraftwerke, die heute im Bau oder geplant sind, hoffnungsvolle Antworten.

Was wichtig ist:

– Die Bauzeit der vier soeben in den Vereinigten Arabischen Emiraten gebauten Kernreaktoren beträgt acht Jahre.
– Das vor kurzem in Finnland fertig gestellte grösste Kernkraftwerk der Welt hat eine stark verbesserte Sicherheitsauslegung im Vergleich zu den Reaktoren der Schweiz.
– Mit den geplanten kleinen modularen Reaktoren, den SMR, sollen neben der verbesserten Sicherheit auch die Kosten gesenkt und der Einsatzbereich grösser und flexibler werden.

Südkoreaner bauen Kernkraftwerke in nur acht Jahren

Heute können Kernkraftwerke ohne Kostenüberschreitungen und in einem vernünftigen Zeitrahmen gebaut werden. Das zeigt das Beispiel der Vereinigten Arabischen Emirate (siehe hier). 2009 gewinnt ein südkoreanisches Konsortium dort die Ausschreibung zum Bau von vier grossen Kernkraftwerken. Im Juli 2012 wird der erste Beton für das Fundament des Reaktorblocks 1 gegossen, 2020 wird dieser Block mit dem Netz synchronisiert.

Bis heute sind drei der vier Reaktoren des Typus APR-1400 fertig gebaut, der vierte steht unmittelbar vor der Vollendung. Nach einer durchschnittlich Bauzeit von acht Jahren erzeugen die vier Reaktoren insgesamt über 40 Terawattstunden Strom pro Jahr – das ist doppelt so viel, wie die vier Kernkraftwerke der Schweiz liefern.

Um die Entwicklung der Kernkraft-Technologie sinnvoll beschreiben zu können, spricht man von vier sogenannte Reaktor-Generationen. Die erste Folie zeigt die Entwicklung dieser vier Generationen seit 1950:

Quelle: IAEA

Generation I umfasst frühe Prototypen, die ab 1950 gebaut wurden (Zeitstrahl unten). Alle Kernkraftwerke in der Schweiz gehören zur Generation II – diese umfasst grosse Leichtwasser-Reaktoren – , die ab 1970 realisiert wurde. Alle Reaktoren, die heute gebaut werden, gehören zur Generation III (aktuell seit dem Jahr 2000), die zusätzlich noch eine fortgeschrittene Linie III+ aufweist (rechts im Kasten). Die Zukunft gehört der Generation IV, die auf diesem Bild spekulativ ab 2030 zum Einsatz kommen soll, und auf die ich in meiner nächsten Kolumne eingehe.

Der neue EPR in Finnland hat viele Sicherheitsvorteile

Schauen wir zuerst auf die aktuelle Generation III/III+. Der wichtigste Vorteil der Reaktoren dieser Generation liegt in einem wesentlich verbesserten Sicherheitsverhalten gegenüber der Generation II. Als Beispiel nehme ich den bei uns bekanntesten Typen, den EPR (European Pressurized Reactor), der zur Generation III+ gehört (siehe hier).

Soeben wurde in Olkiluoto in Finnland der erste Reaktor dieses Typus ans Netz angeschlossen. Auf dem folgenden Bild sind die wichtigsten Sicherheitssysteme dieses grössten je gebauten Reaktors aufgeführt (dieses und das nächste Bild sind einem Vortrag von Professor Andreas Pautz (EPFL) entnommen, den er 2022 im Nuklearforum gehalten hat, siehe hier):

Quelle: PSI, Andreas Pautz

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die aktiven Sicherheitssysteme (bei denen der Mensch noch eingreifen muss) entscheidend verstärkt wurden: Sie enthalten gebunkerte, vierfach redundante Kühlsysteme sowie ein doppeltes Containment aus Stahl und Beton. Neu entwickelt wurden passive Systeme, wo der Mensch nicht mehr eingreifen muss. Dazu zählt der sogenannten «Core Catcher» (unten links im Bild): Bei einer Kernschmelze fliessen die hochradioaktiven Stoffe aus dem Reaktordruckbehälter wegen der Schwerkraft automatisch in ein gesichertes Schmelzbecken, wo sie aufgefangen und gekühlt werden.

Kleine modulare Reaktoren als Zukunftshoffnung

Mit diesem EPR-Design wurde die Wahrscheinlichkeit für die Freisetzung von Radioaktivität in die Umgebung auf einmal in zehn Millionen Jahren reduziert – das ist unvorstellbar klein. Und selbst wenn ein massiver Betriebsunfall eintreten würde, wäre ein Eingriff durch Operateure erst nach einer Woche Karenzzeit nötig, um Umweltschäden zu verhindern.

In der Generation III+ sind aber vor allem die «Small Modular Reactors» (SMR) von besonderer Bedeutung. Diese geplanten kleinen (unter 300 Megawatt Leistung) modular aufgebauten Reaktoren geben Antworten auf die Kritik, die Kosten seien zu hoch, und es bestehe das Risiko des Ausfalls grosser Anlagen (Klumpenrisiko). Ein SMR kann zuerst mit wenig Reaktormodulen gebaut und erst später vergrössert werden, wodurch die Anfangsinvestitionen kleiner ausfallen. Zudem können die Module serienweise in der Fabrik vorproduziert werden, was ebenfalls kostendämpfend wirkt.

Weltweit wird an über 70 SMR-Konzepten getüftelt

Wirtschaftlich von Vorteil bei den SMR sind zudem: ein einfacheres Design, weniger Platzbedarf, kleinere Baustellen, kürzere Bauzeiten und Einsatzmöglichkeiten in abgelegenen Regionen. Technisch gesehen punkten die SMR mit passiven Sicherheitssystemen, höheren Betriebstemperaturen (neue Anwendungsmöglichkeiten bei industriellen Prozessen), flexiblem Einsatzbereich (Zu- und Abschalten von Modulen) und höherer Brennstoffanreicherung, (weniger häufiges Nachladen von Reaktorbrennstoff).

Zurzeit sind laut Internationaler Atomenergie Agentur (IAEA) rund 70 verschiedene Designs von SMR in vielen verschiedenen Ländern in Entwicklung (siehe hier). Das nächste Abbildung zeigt diejenigen Typen, die bereits realisiert sind oder einer Fertigstellung am nächsten stehen:

Quelle: PSI, Andreas Pautz

Bereits im Betrieb sind zwei kleine russische Kernreaktoren, die seit 2020 vom Schiff «Akademik Lomonosov» aus die Hafenstadt Pewek im Norden Russlands mit Strom versorgen. Die Russen, die von ihrer Erfahrung mit atomgetriebenen U-Booten zehren, sind bei den schwimmenden SMR führend.

Im Bau sind zurzeit ein 100 Megawatt-Reaktor in China, der ACP-100, und ein kleiner 30 Megawatt-Reaktor in Argentinien, der CAREM-25. Gemäss Angaben der Hersteller wird die argentinische Kleinanlage als erste noch in diesem Jahr fertig werden. Allerdings soll dann direkt anschliessend eine 100-Megawatt-Anlage folgen.

Mindestens acht Konzepte sind im Rennen um die erste SMR-Realisierung

Dies gibt einen Hinweis darauf, wie offen das Rennen ist, welcher SMR-Typus sich als erster wirtschaftlich durchsetzt und wann dies geschehen wird. Im Rennen sind neben den bereits erwähnten Typen auch die Konzeptentwürfe von NUWARD aus Frankreich, SMART aus Südkorea, UK SMR aus Grossbritannien, VOYGR und BWRX-300 aus den USA sowie RITM-200M aus Russland. Eine grosse Gruppe von Experten gibt dem VOYGR von NuScale in den USA die besten Chancen als erster SMR erfolgreich zu sein. Diesen Typus habe ich in einem früheren Beitrag bereits näher beschrieben (siehe hier).

Fazit: Vorerst dominieren die Grossanlagen der weiterentwickelten Leichtwasser-Reaktoren – wie der EPR, der AP1000 und der APR-1400 aus Generation III/III+ – die Neubau-Szene. Wahrscheinlich noch in diesem Jahrzehnt werden wir aber als zukunftsträchtige Alternative die Markteinführung eines modular aufgebauten Kleinreaktors erleben, der hoffentlich erfolgreich startet, und dem wohl weitere Modelle folgen werden. Damit würde das Bild der Kernkraft neu gemalt.

6 Kommentare zu “Die Zukunft der Kernenergie – Teil 1

  1. Guntram Rehsche
    Guntram Rehsche

    Die Planungs- und Bauzeiten für neuere AKW in der westlichen, demokratischen Welt betrugen:
    Olkiluoto (22 years)
    Vogtl 3,4 (17-18 y)
    Flamanville (20 y)
    Hinckley (18-19 y)
    Taishan 1,2 (12-13 y)
    Haiyant 1,2 (13-14 y)
    Schlumpf’s Argument von den durchschnittlichen Bauzeiten (7-8 Jahre) ist ein Schuss in den Ofen – oder in den Reaktor-Behälter (wie so viele seiner Greenwashing-Versuche für die Atomtechnologie.

  2. Arturo Romer
    Arturo Romer

    Herr Prof. Martin Schlumpf informiert sehr korrekt und sachlich. Er erwähnt jedoch noch nicht das enorme Potential z.B. der “Thorium-Reaktoren mit Beschleuniger (Generation IV)”. Diese Reaktoren werden in wenigen Jahren auf dem Weltmarkt käuflich sein. Sie werden effizient, sehr sicher, ökologisch und preislich konkurrenzfähig sein. Sie lösen auch das Problem der radioaktiven Entsorgung. Auch die heutig vorhandenen radioaktiven Abfälle (z.B. U-238) können energetisch noch weiter effizient genutzt werden. Diese Reaktoren konkurrieren nicht mit den erneuerbaren Energien wie z.B. Fotovoltaik. Sie ergänzen sich gegenseitig. Die Menscheit braucht mittel- und langfristig beides, Kernenergie und erneuerbare Energien.

    • Martin Schlumpf
      Martin Schlumpf

      Wie im Beitrag angekündigt, werde ich auf die Entwicklung der Reaktoren der Generation IV im kommenden Post „Die Zukunft der Kernenergie – Teil 2“ eingehen.

    • Jürg Zwahlen
      Jürg Zwahlen

      Wenn im freien, sprich nicht politischen verseuchten Markt, Fotovoltaik oder andere fälschlicherweise als „erneuerbare“ Energien bezeichnete Energielieferanten ihre Position behaupten, ist das für mich in Ordnung. Ansonsten sehe ich aus heutiger Sicht (Versogungssicherheit, Kosten pro kWh, Umwelt und vor allem auch Ressourceneinsatz und -verschleiss) keine Notwendigkeit für besagte „Erneuerbare“. Diese verteuern und komplizieren (Speicherprobleme, Backup bei Dunkelflaute, Netzstabilisierung etc.) nur alles. Teuer ist meistens auch ein Indikator für Umweltproblematisch! Kernkraft ist unschlagbar kostengünstig und Resourcenschonend.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert