Bis sich die Kohle einen bedeutenden Anteil des Energieverbrauchs erobert hat, sind drei Generationen verstrichen. Bei Öl und Gas hat dieser Prozess dann noch länger gedauert. Wer heute «Netto-Null» ruft, sollte sich daran erinnern.
Originalbeitrag «Schlumpfs Grafik, Folge 8» im Nebelspalter vom 23. August 2021
Seit mehreren hunderttausend Jahren benutzen die Menschen das Feuer, um Licht und Wärme zu erzeugen sowie Nahrungsmittel verträglicher zuzubereiten. Dazu kommt seit etwa 12’000 Jahren der Einsatz von Nutztieren, der das Potenzial unserer eigenen Kräfte entscheidend vergrössert hat. Dieser Energiezustand bestimmte über viele Jahrtausende die Grenzen der Handlungsmöglichkeiten der Menschen: Verbrennung von Biomasse (Holz, Holzkohle, Abfälle) und Einsatz von Muskelkraft zur Erzeugung von Wärme-, Licht- und mechanischer Energie.
Beispiellose Ausweitung des Energieverbrauchs
Erst vor 300 Jahren setzte eine Entwicklung ein, die die Spezies Homo sapiens in eine unseren Planeten dominierende Gattung katapultiert hat. In erster Linie ist das eine Entwicklung, die auf einer beispiellosen Ausweitung unseres Energieverbrauchs beruht. Vaclav Smil, Professor für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba, Kanada, ein ausgewiesener Experte in Energiefragen und Verfasser zahlreicher Bücher zu diesem Thema, hat 2017 in «Energy Transitions» die bisher einzige Datengrundlage für diese Entwicklung seit dem Jahr 1800 erarbeitet. Die folgende von mir erstellte Grafik visualisiert diese Zahlen.
(Klick auf Grafik vergrössert diese)
Zuerst einmal sticht der explosive Ausbau des weltweiten Energieangebots ins Gesicht – stark akzentuiert seit Mitte des 20 Jahrhunderts. Im Jahr 2015 hat die Welt 26-mal mehr Energie verbraucht, als im Jahr 1800. Misst man das an der siebenfach gewachsenen Gesamtbevölkerung, haben wir heute pro Kopf im Durchschnitt gut vier Mal mehr Energie zur Verfügung.
Für neue Energieformen wird es immer schwieriger
Uns interessiert hier aber das Tempo der früheren Energiewenden, worunter wir die Veränderung der Zusammensetzung des Energiemix verstehen. Diese ist bisher immer gleich abgelaufen: Ein neuer Energieträger kommt hinzu, etabliert sich mehr oder weniger und bleibt bis heute aktiv. Das hat aber zwangsläufig zur Folge, dass es für neuere Energieformen immer schwieriger wird, sich einen grösseren Anteil am Ganzen zu verschaffen und zu halten.
In einem übergeordneten Sinn gibt es eine erste grosse Energiewende von 1840 bis 1985 von der traditionellen Biomasse zu den drei fossilen Trägern Kohle, Öl und Gas, die sukzessive den bestehenden Energiemix bereichern. Wenn man die Eintrittsmarke bei 5 Prozent ansetzt, beginnt der Kohleaufstieg im Jahr 1840 und erreicht sein Maximum von 55 Prozent 1910. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts halten sich Kohle und Biomasse also die Waage, und es dauert bis 1920 bis Öl mit 5 Prozent die Szene betritt, um 1975 zu seinem Maximum von 40 Prozent zu gelangen. Der Start zum Gaszyklus schliesslich liegt am Ende des zweiten Weltkrieges, und es dauert bis 2015 bis er seinen Spitzenanteil von 25 Prozent erreicht.
Zwei bis drei Generationen bis zum Höhepunkt
Der Weg von einer spürbaren Markteinmischung bis zur Maximaldurchdringung hat also 70, 55 und nochmals 70 Jahre gedauert. Dass es beim Öl rascher ging, hat wohl mit der besonderen Eignung dieses Trägers für Mobilitätsanwendung zu tun. Eine erste Erkenntnis: Es sind zwei bis drei Generationen verstrichen, bis eine Wende ihren Höhepunkt erreicht hat.
Auskunft über das Tempo einer solchen Transformation erhalten wir durch einen direkten Vergleich darüber, wie lange es vom Markteintritt gedauert hat, bis 25 Prozent erreicht sind. Bei der Kohle waren es 35 Jahre (1840-1875), beim Öl 40 Jahre (1920-1960) und beim Gas 70 Jahre (1945-2015). Die zweite Erkenntnis: Jüngere Energieträger brauchen mehr Zeit, um auf einen namhaften Anteil zu kommen.
Wie steht es aber mit den drei neusten Energieträgern Wasser, Kernkraft, und Neue Erneuerbare? Man könnte hier von einer zweiten grossen Energiewende sprechen, denn was die drei verbindet, ist ihre ausschliessliche Nutzung für Elektrizitätserzeugung. Dies wiederum ist nicht überraschend, denn die dritte entscheidende Transformation des Energiebereichs hat in den 1880-er Jahren begonnen: Damals ist es zum ersten Mal gelungen, elektrischen Strom in einem Netz über grössere Distanzen für mehrere Benutzer dienstbar zu machen. Und wie wir heute wissen, war das der Anfang eines Erfolgsweges der Elektrizität, der in Zukunft noch verstärkt weiter gehen wird.
Kernkraft 1985 bei 5 Prozent
Wie gross sind aber die Anteile der neuen Träger? Nur der Kernkraft ist es gelungen, 1985 die Schwelle von 5 Prozent zu überschreiten, danach konnte sie kaum mehr dazu gewinnen. Die Wasserkraftwerke haben während ihrer über 100-jährigen Geschichte nie mehr als 3 Prozent beigetragen, und die Neuen Erneuerbaren sind noch nicht über 2 Prozent hinausgekommen. Soweit die Zahlen von Smil, die aber nur bis 2015 reichen.
Konsultiert man die neuste BP-Statistik (die allerdings die Energieintensität anders berechnet als Smil) liegen 2020 alle drei mehr oder weniger gleichauf um die 5 Prozent – mit einem deutlichen Wachstum aber nur bei den Neuen Erneuerbaren. Die Eintrittsmarke haben diese neuen grünen Technologien nach 30-jährigem Bestehen also gerade erst geschafft.
Die Kategorie «Neue Erneuerbare» ist bei Smil aufgeteilt in «Moderne Biomasse» und «Wind und Sonne». Unter erneuerbar (das Schlüsselwort bei Klimadiskussionen) gehört aber auch die Kategorie «Traditionelle Biomasse», der braune unterste Bereich in der Grafik. Wie angetönt sinkt deren 100-Prozent-Anteil seit 1800 mehr oder weniger stetig bis auf 8 Prozent im Jahr 2015. Wenn man bei dieser Kategorie das Wort «erneuerbar» aber im positiven Klimasinn verwenden würde, wäre das blanker Hohn: Hier ist nämlich der Energieverbrauch all der Hunderte von Millionen armen Menschen vor allem aus Asien und Afrika zusammengefasst, an denen bisher jede Energiewende vorbeigegangen ist.
Sogar in der Schweiz braucht es mehr Energie
Damit wir die schreckliche Situation dieser ärmsten Menschen – deren Zahl durch Corona wieder gestiegen ist – verbessern können, brauchen wir mehr und qualitativ bessere Energie, sprich in den meisten Fällen Strom. Mit Sicherheit werden wir aber (so gut ist die Demografie heute) in den nächsten Jahrzehnten auch noch mit mehr Menschen rechnen müssen, vor allem in Afrika, und auch für die brauchen wir mehr Energie. Und sogar in der Schweiz – wenn wir die Elektrifizierung verschiedener Sektoren gemäss Energieperspektiven vollziehen wollen – brauchen wir mehr Energie.
Sicher wird ein Teil dieses Mehrbedarfs durch die bewundernswerte Fähigkeit der Menschheit kompensiert, mehr Leistung aus weniger Primärenergie zu produzieren und die Energie effizienter anzuwenden. Aber es scheint nicht sicher, ob das auch nur ausreicht, um den Gesamtbedarf der Welt zu stabilisieren.
Nur die reichen Industrieländer schaffen es bis 2050
Angesichts dieser Situation, und im Eingedenken an die oben gezeigten historischen Erkenntnisse langsamer Energiewenden, macht es Mühe, daran zu glauben, dass wir bis 2050 bei «Netto-Null-CO2» sein können. Präziser: Wir und einige andere reiche Industrieländer könnten es technisch vielleicht schaffen, aber die grosse Mehrzahl der andern Länder hat die notwendigen Mittel nicht, um das zu erreichen.
Die Energiewende braucht gewiss Zeit – vor allem jedoch eine kompetente politische Förderung. Fossile Energieträger sind dank ihrer hohen Energiedichte gut transportabel. Man wird langfristig keine andere Möglichkeit haben, als diese weitgehend mit Synfuels zu ersetzen – zu deren Herstellung natürlich kein in Europa knapper Ökostrom verwendet werden darf.
Die EU-Kommission jedoch treibt den Kontinent mit ihrer ideologischen Fixierung auf die Elektrifizierung von allem und jedem in einen Zustand der Energieknappheit hinein.
Die Industrie scheint allmählich aufzuwachen und beginnt ohne Rücksicht auf die Behinderung durch Brüssel zu handeln.