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Es gibt kein massenhaftes Artensterben

Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 59“ im Online-Nebelspalter vom 14. November 2022 zu lesen.

Auf der Webseite des WWF Deutschland ist zu lesen: «Rund eine Million Arten könnten innerhalb der nächsten Jahrzehnte verschwinden, wenn sich der Zustand unserer Ökosysteme weiterhin verschlechtert.» Und am Ende meines letzten Beitrages (siehe hier) habe ich auf einen Artikel im «National Geographic» von 1999 hingewiesen, in dem neben den fünf Massenaussterben der letzten 500 Millionen Jahren ein aktuell sechstes in der Gegenwart angekündigt wird.

Auf was stützen sich solche Aussagen ab? Und wie zuverlässig sind die entsprechenden Daten? Um es vorwegzunehmen: Unser Wissen zu diesem Thema ist noch immer sehr rudimentär. Je mehr man darüber liest, desto klarer wird, wie gross die Datenlücken sind, und wie schwierig es ist, diese zu füllen.

Was wichtig ist:

– Die Rote Liste der Weltnaturschutzunion gibt Auskunft über die Gefährdung der Tier- und Pflanzenarten. 
– Nur sieben Prozent aller heute bekannten Arten konnten dort bisher evaluiert, also statistisch ausgewertet werden.
– Davon ist rund ein Viertel bedroht – aber weniger als ein Prozent ist ausgestorben.

Die Aussage des WWF bezieht sich auf einen globalen Assessment-Bericht der Uno-Organisation Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES – eine Art Pendant zum Weltklimarat (siehe hier). Dort wird in den Abschnitten zum Artensterben auf die sogenannte Rote Liste der Weltnaturschutzunion, IUCN, zurückgegriffen (siehe hier). Diese Rote Liste, die seit 1964 geführt wird, enthält die umfassendsten Informationen über das Ausmass der Gefährdung von Tieren, Pilzen und Pflanzen auf der ganzen Welt.

Heute sind zwei Millionen Arten bekannt

Die Tabellen, die dort veröffentlicht werden, enthalten zunächst einmal Schätzungen über die Zahl der Arten, die heute überhaupt identifiziert und beschrieben sind. In der aktuellen Liste von 2022 sind das 2,13 Millionen Spezies. Weil viele Habitate im tropischen Regenwald oder in den Meeren aber auch heute noch kaum erforscht sind, und weil es viel schwieriger ist, sehr kleine Tiere und Pflanzen zu erfassen als grosse, streuen die Vermutungen der Biologen über die Gesamtzahl der weltweit existierenden Arten zwischen fünf und zehn Millionen.

Dabei steigt die Zahl der uns bekannten Arten von Jahr zu Jahr immer weiter an, weil mit steigendem Wohlstand immer mehr Menschen in der Lage sind, die Natur um sie herum immer besser zu erforschen und zu katalogisieren: Die wissenschaftlich identifizierte Fauna und Flora wächst stetig.

Über die Insekten weiss man besonders wenig

Aber nur bei einem Bruchteil der uns bekannten Arten lässt sich Genaueres über ihr Gefährdungspotenzial aussagen, was voraussetzt, dass man während einiger Zeit über die Anzahl und die Lebensbedingungen der Populationen Bescheid weiss. In der nächsten Grafik habe ich aus der Roten Liste für die Kategorien Wirbeltiere, wirbellose Tiere, Pflanzen und Pilze zusammengefasst, wie viele von ihnen bekannt sind, wie viele davon im Evaluationsprozess dieser Liste erfasst werden und wie viele gefährdet sind.

Gehen wir erstens der Frage nach, wie gross der Anteil der evaluierten Arten (blau) an der Gesamtzahl der bekannten Arten (grau) ist. Beim Total aller Lebewesen sind es lediglich sieben Prozent – das gibt einen ersten Hinweis darauf, wie schwierig es ist, verlässliche Daten über die Gefahr des Aussterbens zu erhalten.

Noch unter diesem Gesamtdurchschnitt von sieben Prozent liegen die Kategorien der Pilze, wo nur 0,4 Prozent auf der Liste erscheinen, und der wirbellosen Tiere, deren Evaluationsrate bei zwei Prozent liegt. Dies hängt bei den Wirbellosen damit zusammen, dass hier alle Insekten mitgezählt werden, die allein rund die Hälfte aller Lebewesen ausmachen, aber wegen ihrer Kleinheit besonders schwer zu erfassen sind.

Ein Viertel aller Lebewesen wird als bedroht eingestuft

Weitaus am besten erfasst sind die Wirbeltiere – die uns offensichtlich am nächsten stehen – , über die die Rote Liste zu 80 Prozent Auskunft gibt: Von den Vögeln (100 Prozent), über die Säugetiere (91 Prozent), Reptilien (87 Prozent), Amphibien (86 Prozent) bis zu den Fischen (67 Prozent).

Wie sieht es dann zweitens mit der Bedrohung durch Aussterben aus? Im Gesamtbild werden 41’500 (rot) von den erfassten 147’500 Arten (blau) als bedroht eingestuft – das sind 28 Prozent. Allerdings ist die Datenlage beim Grossteil der untersuchten Arten zu dürftig, um prozentuale Schätzungen überhaupt machen zu können: Nur bei gut 7000 Arten sind solche quantitativen Abschätzungen in der Liste zu finden.

Genauere Gefährdungs-Abschätzungen sind oft nicht möglich

Wiederum am besten erfasst sind die Wirbeltiere, wo die Gefährdungsraten von den Amphibien (41 Prozent) über die Säugetiere (26 Prozent) und Reptilien (21 Prozent) bis zu den Vögeln (13 Prozent) zurückgehen. Bei den Fischen aber, die die Hälfte aller Wirbeltiere ausmachen, steht «ungenügende Datenlage» – wie bei allen wirbellosen Tieren, Pflanzen und Pilzen, also dem Grossteil der evaluierten Arten.

Im Vergleich mit dem Zu-Tode-Jagen ganzer Familien von Säugetieren vor tausenden von Jahren verhalten wir uns heute ungleich «zivilisierter» im Umgang mit der Natur.

Um die Resultate, die wir hier vorfinden, richtig einschätzen zu können, müssen wir Verschiedenes bedenken: Erstens ist das Aussterben einer Gattung in der unberührten Natur ein Vorgang, der von sich aus immer wieder stattfindet. Zweitens hat der Homo sapiens, nachdem er Afrika verlassen hat, bei der Eroberung andere Kontinente mehrmals das Aussterben grosser Säugetier-Familien verursacht: vor über 40’000 Jahren in Australien, vor 16’000 Jahren in Amerika.

Und drittens darf man nicht vergessen, dass die «lebendige Natur» immer wieder zu einem natürlichen Feind werden kann: Wenn ich meinen Gemüsegarten pflege, schätze ich den Besuch von Schnecken nicht besonders. Wenn ich als Bauer meine Kulturen pflege, schätze ich Unkraut nicht besonders – und so weiter.

Nur 0,7 Prozent der Arten sind tatsächlich ausgestorben

Pflanzen- und Tierarten verschwinden also aus natürlichen Gründen, und sie stehen vor allem bei der Landwirtschaftsproduktion oft im Widerstreit mit den Bedürfnissen von uns Menschen. Im Vergleich mit dem Zu-Tode-Jagen ganzer Familien von Säugetieren vor tausenden von Jahren verhalten wir uns heute aber ungleich «zivilisierter» im Umgang mit der Natur: Mit der Aufklärung und der Ausbreitung von Wissenschaft und globalem Handel hat sich trotz enormer Bevölkerungsexplosion ein Wohlstand herausgebildet, der das Aufkommen von Umweltschutzbewegungen ermöglicht hat.

Selbst unter Einbezug einer Dunkelziffer von möglicherweise ausgestorbenen Arten fehlen die Indizien für das Aussterben einer Million von Arten in den nächsten Jahrzehnten.

Diese Organisationen – wie der anfangs zitierte WWF – haben sicher Wesentliches zum Schutz gefährdeter Pflanzen und Tiere beigetragen. Liegen sie aber auch richtig mit ihren Warnungen vor dem sechsten Massenaussterben oder dem Verschwinden einer Million Arten in nächster Zeit?

Darauf gibt wiederum die Rote List von 2022 eine klare wissenschaftliche Antwort: Von den insgesamt 147’500 erfassten und evaluierten Arten sind erst 980 mit Sicherheit ausgestorben – das ist weniger als ein Prozent.

Und selbst unter Einbezug einer Dunkelziffer von möglicherweise ausgestorbenen Arten fehlen die Indizien für das Aussterben einer Million von Arten in den nächsten Jahrzehnten, wie das der WWF behauptet. Es sei denn, wir lassen zu, dass sich der Zustand unserer Ökosysteme um den Faktor tausend verschlechtert.

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