Hungersnöte bedrohten die Menschen auf dem ganzen Planeten bis ins 19. und teilweise sogar 20. Jahrhundert hinein – dann sind sie verschwunden. Der Schlüssel zur Lösung hiess industrielle Landwirtschaft und «Grüne Revolution».
Originalbeitrag «Schlumpfs Grafik, Folge 15» im Nebelspalter vom 11. Oktober 2021.
1898 warnte der englische Chemiker William Crookes vor einer kommenden Hungersnot, weil die Importe von Guano-Dünger (aus Vogelkot) von Südamerika nicht ausreichen würden, den steigenden Nahrungsbedarf der wachsenden englischen Bevölkerung zu decken. Und er hatte – wie schon Malthus ein Jahrhundert früher (siehe hier) – das aktuelle Problem richtig analysiert. Aber er unterschätzte – genau wie Malthus – das kreative Problemlösungspotenzial der Wissenschaftler und Techniker: Hans Haber und Carl Bosch entwickelten noch vor dem ersten Weltkrieg ein chemisches Verfahren, das die Massenproduktion von synthetischem Stickstoff-Dünger ermöglichte.
Der entsprechende Forschungsprozess trug den Titel «Brot aus Luft». Nichts könnte besser erläutern, um was es dabei ging: Um das Austüfteln einer bisher unbekannten Methode, Stickstoff aus der Luft in einen chemischen Zustand zu bringen, in dem er dazu verwendet werden kann, Böden zu düngen. Das war bahnbrechend, weil es Luft à discrétion gibt. Und da Haber die chemische Lösung fand und zusammen mit Bosch auch eine Massenanwendung gelang, konnte die Produktivität der landwirtschaftlich genutzten Böden enorm gesteigert werden.
Landwirtschaftsfläche um das 17-fache gestiegen
Denn landwirtschaftliche Produktion erfordert entsprechend bearbeitete Böden. Und bis vor kurzem war die Forderung nach mehr Nahrung nur durch Rodung von neuem Land zu erfüllen. So ist die gesamte Landwirtschaftsfläche in den letzten tausend Jahren um etwa das 17-fache gestiegen und beansprucht heute mit 51 Millionen Quadratkilometern 50 Prozent des gesamten bewohnbaren Landes. Weitere 37 Prozent davon bestehen aus Wald, 11 Prozent aus Buschland und 1 Prozent aus Flüssen und Seen. Somit verbleibt – überraschend – nur gut 1 Prozent für die gesamte menschliche Zivilisation (Städte, Strassen, Bahnen, Infrastrukturen).
Eine weitere Differenzierung der Bodennutzung muss gemacht werden nach den beiden verschiedenen Produktionsmethoden der Landwirtschaft: Ackerbau auf der einen und Tierhaltung auf der andern Seite. 77 Prozent der Böden wird für Fleisch- und Milchproduktion (Weide- und Futterland), und nur 23 Prozent für Getreideproduktion benötigt. Dabei stammen aber 82 Prozent der Kalorienversorgung und 63 Prozent der Proteinversorgung aus dem Getreideanbau: Der grösste Teil der Grundernährung kommt also aus pflanzlicher Produktion, die bedeutend weniger Boden benötigt.
Dreimal soviel Getreide wie 1961
Wie hat sich aber die Produktivität der Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten entwickelt? Die Entwicklung der weltweiten Getreideproduktion ist dafür ein guter Gradmesser. Die folgende Grafik aus «Our World in Data», gestützt auf Daten der Uno-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft, FAO, zeigt die Zahlen von 1961 bis 2018.
(Click auf Grafik vergrössert diese) Unter Getreide sind hier alle wichtigen Sorten zusammengefasst: Weizen, Reis, Mais, Gerste, Hafer, Roggen, Hirse, Sorghum und Buchweizen. Der gesamte Weltertrag (mittlere Kurve) lag 1961 durchschnittlich bei 1,35 Tonnen pro Hektare, und konnte bis 2018 auf 4,07 Tonnen gesteigert werden – ein Plus um den Faktor 3. Aufschlussreich ist der Vergleich mit den kontinentalen Extremen (ich musste die ursprüngliche Grafik ersetzen: Statt Nordamerika ist jetzt die US, und statt Afrika ist jetzt die Demokratische Republik Kongo zu sehen): Während Nordamerika (obere Kurve) mit modernster Technik 2018 7,64 Tonnen pro Hektare ernten konnte, waren es in Afrika (untere Kurve) weitgehend ohne diese Technik lediglich 1,62 Tonnen. Und auch der Steigerungsfaktor seit 1961 liegt in Nordamerika bei 3,5, in Afrika aber nur bei 2.
Norman Borlaug leitete die «Grüne Revolution» ein
Das Haber-Bosch-Verfahren war aber nicht allein für diese Produktivitätssteigerungen verantwortlich: 1944 ging der amerikanische Agrarwissenschaftler Norman Borlaug im Auftrag der Rockefeller Stiftung nach Mexiko, um dort biotechnologische Wege zur Steigerung des Ertrags von Weizen, Mais und Bohnen zu erforschen. Besonders erfolgreich war er mit dem sogenannten Mexikoweizen, einer durch Züchtung einer japanischen Sorte besonders ertragreichen Variante, bei der der kurze Halm die schweren Ähren tragen konnte, ohne abzuknicken. Später wurde diese Sorte auch in Indien angepflanzt, wo die Erträge um fast das Dreifache gesteigert werden konnten. Für diese unter dem Namen «Grüne Revolution» bekannt gewordene Entwicklung der Sortenzüchtung wurde Borlaug 1970 der Friedensnobelpreis zugesprochen.
Wie haben sich diese Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft auf die entsprechend benötigten Landflächen ausgewirkt? Da die Bevölkerung seit 1961 etwas langsamer gewachsen ist als die Agrarerträge, zeigt die entsprechende FAO-Statistik, dass von 1961 bis 2018 die durchschnittlich benötigte Landwirtschaftsfläche pro Kopf von 1,45 auf 0,63 Hektaren zurückgegangen ist. In den letzten sechzig Jahren ist es also gelungen, die für eine Person benötigte Nahrung auf einer um 2,3 mal kleineren Fläche zu produzieren.
Ausreichende Ernährung bei sinkender Landbeanspruchung
Effiziente Bodennutzung mit Kunstdünger, Schädlings- und Parasitenbekämpfung mit entsprechenden chemischen Mitteln, hocheffiziente mechanische Geräte, verbesserte Bewässerungsmethoden, konzentrierte Grossfarmen und (gentechnische) Pflanzenzüchtung – kurz die moderne industrielle Landwirtschaft haben eine ausreichende und nährstoffreiche Ernährung von über sieben Milliarden Menschen ermöglicht, und dies bei sinkender Landbeanspruchung pro Kopf.
Diese historisch beispiellose Erfolgsgeschichte hat aber – wie alle menschlichen Tätigkeiten – auch ihre negativen Kehrseiten: Ausgelaugte Böden, ausgewaschene Chemikalien, Lebensraumeinschränkungen für Fauna und Flora, Tierhaltungsprobleme und Klimabelastung durch Treibhausgase. Den optimalen Weg zwischen Ertragsoptimierung und Schutz der Umwelt zu finden, wird für künftige Forscher und Forscherinnen zu einer grossen Herausforderung. Schaut man aber zurück auf die bisherige Entwicklung, kann man durchaus verhalten optimistisch in die Zukunft blicken.
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