Homo Sapiens

Homo sapiens: Sündenfall oder Hoffnung? Teil 2 Die Bevölkerungsexplosion

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Homo sapiens: Sündenfall oder Hoffnung?
Teil 2
Die Bevölkerungsexplosion

Dieser Artikel wurde für den Deutschen Arbeitgeber Verband geschrieben. Hier geht es zum Originalbeitrag.

Seit dem ersten Auftreten des Homo sapiens vor etwa 200,000 Jahren in Ostafrika hat es bis ins frühe 19. Jahrhundert gedauert, bis die Weltbevölkerung auf eine Milliarde Menschen angestiegen ist. Von da aus ging es dann nur noch gut hundert Jahre, bis die zweite Milliarde erreicht war, worauf die Zahl der Menschen im 20. Jahrhundert bis auf heute 7.5 Milliarden explodierte. Diese beispiellose Entwicklung hat immer wieder grosse Ängste hervorgerufen: Wie sollen die zukünftigen Generationen ernährt und mit Energie versorgt werden? Neben diesen berechtigten Sorgen aber ist selten danach gefragt worden, welches die bestimmenden Faktoren dieser historisch völlig neuartigen Entwicklung gewesen sind.

Es war ja nicht so, dass ein Kaiser oder Papst diesen Prozess bewusst angestossen hätte – vielmehr kam er nach und nach aufgrund verbesserter Lebensbedingungen im Sinn einer natürlichen Evolution zustande. Ohne verbesserte medizinische Versorgung (Hygiene, Impfungen, Antibiotika), mehr und kalorienreichere Nahrung (industrielle Landwirtschaft, Kunstdünger, Pflanzenzüchtung) und der Nutzbarmachung neuer Energiequellen (Kohle, Öl, Gas, Atom) wäre es niemals möglich gewesen, dass so viel mehr Menschen überlebt hätten. In diesem Sinn ist die gewaltige Bevölkerungszunahme der vergangenen hundert Jahre eine Art von positivem Zeugnis für den Fortschritt der Menschheit in dieser Zeit.

Um diesen Prozess genauer zu verstehen, müssen wir uns zuerst den abstrakten Begriff Bevölkerungsentwicklung als Folge eines Wechselspiels von Geburt und Tod vorstellen. Werden viele Kinder geboren, ist eine Bedingung für das Wachstum der Bevölkerung gegeben. Sterben dann aber viele Menschen, bevor sie ein höheres Alter erreicht haben, tritt dieses Wachstum trotzdem nicht ein. Genau so war es während fast der gesamten Geschichte des Homo sapiens: Eine hohe Geburtenrate war an eine hohe Sterberate gekoppelt. Dies illustriert die Familiengeschichte des englischen Königs Edward I im ausgehenden 13. Jahrhundert. Trotz allerbesten mittelalterlichen Lebensbedingungen starben von den 16 Kindern, die Königin Eleanor zur Welt brachte, 10 bevor sie 15-jährig waren, und nur 3 Kinder wurden älter als 40! Das unermessliche Leid der Eltern, die im Durchschnitt alle drei Jahre ein Kind verloren, ist für uns heute kaum mehr vorstellbar.

Was hat sich nun zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend daran geändert? Man kann den damals einsetzenden demografischen Wachstumsprozess schematisiert in drei Phasen beschreiben, die nacheinander auf den vormodernen Zustand mit hohen Geburtenraten und hoher Sterblichkeit gefolgt sind:

  1. Hohe Geburtenraten und sinkende Sterblichkeit: Beginn des Wachstums;
  2. Sinkende Geburtenraten und weiter sinkende Sterblichkeit: Wachstum schwächt sich ab;
  3. Tiefe Geburtenraten und tiefe Sterberaten: Stabilisierung des Wachstums.

Die erste Phase ist gekennzeichnet durch eine sinkende Sterblichkeit, die sich einerseits in einer tieferen Kindersterblichkeit und andrerseits in einer höheren Lebenserwartung niederschlägt.

Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts lag die globale Sterblichkeit von Kindern unter 5 Jahren über 40%, das heisst fast jedes zweite Kind aus dieser Altersklasse ist gestorben (noch immer sehr ähnlich wie bei Königin Eleanor). Etwa um 1870 setzte dann ein kontinuierlicher Abwärtstrend ein, der nach und nach alle Länder erfasste und sich seit 1920 beschleunigte. Während im Jahr 1900 von 100 Kindern unter 5 Jahren noch 36 starben, waren es 2015 noch gut 4; das entspricht einer Reduktion von 87%!
Diese Entwicklung ist in der folgenden Grafik visualisiert: Die rote Fläche im untern Teil zeigt über die letzten 215 Jahre den Anteil von Kindern, die unter 5 Jahren gestorben sind, verglichen mit allen andern, die die ersten 5 Jahre überlebt haben (blau).

Diese und die nächste Grafik sind der Website ourworldindata.org entnommen. Das Original dieser Grafik ist hier zu sehen.

Einen ähnlichen Prozess kann man auch bei der Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt beobachten: Ausgehend von einer durchschnittlichen globalen Lebenserwartung von 32 Jahren im Jahr 1800, nahm diese bis 1950 auf 48 Jahre zu und explodierte dann bis 2015 auf 71 Jahre. Das bedeutet, dass der heutige Homo sapiens mehr als die doppelte Lebenszeit vor sich hat, als sein Kollege vor 200 Jahren!

Damit kommen wir zu Phase zwei unseres Wachstumsprozesses: der Geburtenrate (auch Fertilitätsrate), die gemessen wird als Anzahl Kinder pro Frau. Welches sind die wichtigsten Gründe, die dazu geführt haben, dass nach der sinkenden Sterblichkeit auch die Geburtenrate gesunken ist? Der direkte Zusammenhang besteht darin, dass Familien, wenn sie sehen, dass ihre Kinder nicht mehr so häufig sterben, nach und nach darauf verzichten können, immer mehr Kinder zu zeugen. Durch wachsenden Wohlstand sind die Eltern auch nicht mehr in gleichem Masse darauf angewiesen viele Kinderarbeitskräfte zu haben. Zudem werden die Kinder bei verbesserter Bildung mehr und mehr auch zu Kostenfaktoren, was wiederum dämpfenden Einfluss auf die Grösse der Familie hat. Und schliesslich führt eine verbesserte Bildung der Frauen zu besseren Verhütungsmethoden.

Wie schon erwähnt, ist ein grösserer Effekt aus diesen Faktoren aber erst relativ spät eingetreten: Noch 1970 lag die Fertilitätsrate im Weltdurchschnitt bei 5 Kindern pro Frau (nur eine geringe Abnahme gegenüber der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts), doch danach fiel sie dramatisch bis auf den heutigen Wert von 2.5 Kindern pro Frau! Allerdings gab es in diesem Bereich riesige Unterschiede zwischen den Kontinenten: In Europa und Amerika sank die Rate bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich, währenddem Asien erst 1960 und Afrika sogar erst 1970 dazu beitrugen, dann allerdings massiv.

Damit haben wir alle wesentlichen Faktoren angesprochen, die den Verlauf der Weltbevölkerung geprägt haben, und somit können wir die ganze Entwicklung in einem Bild zusammenfassen. Dies geschieht am eindrücklichsten, wenn man der Kurve der Weltbevölkerung den Verlauf der jährlichen Wachstumsraten in Prozent gegenüberstellt. In der folgenden Grafik ist dies von 1750 bis ins Jahr 2100 dargestellt:

Das Original dieser Grafik ist hier zu sehen.

Bei der Interpretation dieses Diagramms ist wichtig, dass hier nicht nur der bisherige Verlauf seit 1750 eingetragen ist, sondern zusätzlich auch eine Zukunftsprojektion der Vereinten Nationen bis 2100 (es handelt sich um die wahrscheinlichste mittlere Variante: UN Medium Fertility Variant).

Anhand der roten prozentualen Wachstumskurve können wir so den dreistufigen Verlauf des demografischen Prozesses, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt hat, direkt visuell nachvollziehen: Ab 1920 steigt die Wachstumsrate aufgrund sinkender Sterblichkeit bis um 1970 markant bis auf 2.1% an (Phase 1), danach sinkt sie aufgrund der stark rückläufigen Fertilitätsraten (Phase 2), wir treten also in eine Periode abgedämpften Wachstums ein, die schliesslich etwa zu Ende des 21. Jahrhunderts in eine vollständige Stabilisierung übergehen könnte (Phase 3).

Entscheidend ist, dass alle notwendigen Mechanismen, die letztlich zur Stabilisierung der Weltbevölkerung führen, seit den 1970er Jahren auf alle Länder übergegriffen haben. Auch auf Afrika, das von diesen positiven Trends immer erst zuletzt profitieren konnte. Auch wenn heute dort verglichen mit Europa die Kindersterblichkeit noch immer 13 mal höher, die Lebenserwartung noch immer 20 Jahre tiefer und die Geburtenrate noch fast 3 mal höher ist, so haben sich die positiven Trends, die seit 1970 in allen Bereichen zu erkennen sind, seit 2000 in Afrika stark beschleunigt. Wir sind also besonders in diesem Kontinent noch mit gewaltigen Problemen konfrontiert, aber aus der jüngsten Geschichte lässt sich ablesen, dass ein Lösungsweg möglich ist.

Eine andere positive Wegmarke haben wir bereits heute erreicht: das sogenannte Peak Child-Phänomen. Damit wird ausgedrückt, dass die Anzahl aller Kinder unter 15 Jahren in unserer Zeit einen Stand erreicht hat, der in Zukunft mehr oder weniger stabil bleiben wird.
In der folgenden Grafik habe ich die Entwicklung der Gesamtbevölkerung (grau) zusammen mit dem jeweiligen Anteil der Menschen unter 15 Jahren (rot) und derjenigen über 65 Jahren (blau) in Dekadenschritten von 1950 bis 2100 zusammengestellt:

Deutlich zu erkennen ist das kontinuierliche Anwachsen der Zahl der Kinder unter 15 Jahren bis etwa 2015 – danach bleibt sie konstant. Da gleichzeitig die Gesamtzahl der Menschen aber weiter wächst, sinkt ihr prozentualer Anteil kontinuierlich von 1950 bis 2100 von 34% auf 18%, was entscheidend zur Beruhigung des Wachstums beiträgt.

Auf der andern Seite sieht man in der Gruppe von Menschen über 65 Jahren bis heute einen langsam wachsenden absoluten Anteil, der bis 2100 noch sehr stark zulegen wird! Dies ist nicht nur auf eine wachsenden Lebenserwartung zurückzuführen, sondern auch auf die Tatsache, dass eine grosse Überzahl von jungen gegenüber alten Menschen dazu führt, dass die Bevölkerung noch über Generationen weiter wächst, weil diese jungen Menschen in dieser Zeit selber alt werden.

Und schliesslich wird sich die geografische Zusammensetzung der Globalbevölkerung bis 2100 stark verändern. In gerundeten Milliarden zusammengefasst, verteilen sich die heutigen 7 Milliarden auf Europa 1, Afrika 1, Beide Amerikas 1 und Asien 4 (davon China und Indien allein 2.7). Nach den UN-Projektionen werden sich die 11 Milliarden am Ende unseres Jahrhunderts so zusammensetzen: Europa 1, Afrika 4, Beide Amerikas 1 und Asien 5. Das weitaus grösste Wachstum wird also in Afrika stattfinden, während Europa auf einen Weltanteil von 6% schrumpfen wird!

Versuchen wir ein Kurzfazit zu ziehen. Das historisch unvergleichliche Wachstum der Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert wurde initiiert durch ständige Verbesserungen der existentiellen Lebensbedingungen, die zu einer stark gesunkenen Sterblichkeit geführt haben. Diesem explosiven Wachstum entwuchs später als Korrektiv eine Familienplanung, die den Frauen ermöglicht hat, ihre Kinderzahl von durchschnittlich 6 auf heute 2.5 zu reduzieren. Damit haben wir Peak Child erreicht, was uns eine begründete Hoffnung geben kann, dass die Verfolgung des in letzter Zeit eingeschlagenen Weges zu einer notwendigen Stabilisierung der Bevölkerung Ende dieses Jahrhunderts führen wird.

Die Herausforderungen bleiben aber gewaltig – ebenso jedoch der Glaube an Homo sapiens als Problemlöser.

 

 

 

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