Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 108“ im Online-Nebelspalter vom 15. April 2024 zu lesen.
Im September 1283 wurde ein walisischer Fürst, der für die Freiheit seines Vaterlandes gekämpft hatte, von einem englischen Parlament zum Tode verurteilt. Damit sein Tod für seine Landsleute möglichst abschreckend wirken sollte, wurde der Verurteilte zuerst öffentlich an einem Strick um den Hals aufgehängt. Bevor er verröchelte, schnitt ihm der Henker mit einem Metzgermesser die Eingeweide heraus. Aber erst dann wurde er von seinen Qualen erlöst: Er wurde enthauptet und in vier Stücke zerteilt. Sein Kopf wurde auf einem Spiess beim Tower von London zur Schau gestellt.
Eine derart grausame Gewaltinszenierung, die damals üblich war, ist für uns heute zum Glück überhaupt nicht mehr vorstellbar (ausser bei fanatischen Terroristen): Offensichtlich hat seit dem Mittelalter fast überall auf dieser Welt ein Zivilisierungsprozess stattgefunden, der solche Abscheulichkeiten verunmöglicht – insbesondere auch dann, wenn sie im Namen einer Staatsmacht ausgeführt werden.
Was wichtig ist:
– In der Kriegsgeschichte der letzten 200 Jahre haben die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts mit Abstand die höchsten Opferzahlen gefordert.
– In der historisch überblickbaren Zeit gab es aber wahrscheinlich sogar noch schlimmere Katastrophen menschlicher Gewalt als der Zweite Weltkrieg.
– Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zahl der Kriegsopfer verglichen mit der Bevölkerung tendenziell gesunken.
Der walisische Fürst, der am Ende des 13. Jahrhunderts so schrecklich zu Tode kam, ist letztlich auch ein Kriegsopfer, denn er wurde im Krieg zwischen Engländern und Walisern getötet. Und um die Opfer von Kriegshandlungen soll es in diesem Beitrag gehen. Zuerst allgemein um die Frage: Woher kommen die Informationen, die wir über Kriege und deren Opfer haben? Und dann spezifischer: Hat der angesprochene Zivilisierungsprozess auch zu einem Rückgang der Kriegstoten geführt?
Die wohl umfassendste Abhandlung zum Thema «Gewalt» hat der kanadische Psychologe Steven Pinker 2013 in seinem Buch «Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit» vorgelegt (siehe hier). Darin geht er unter anderem der Frage nach, ob das 20. Jahrhundert das blutigste der Menschheitsgeschichte gewesen ist, was vielen Menschen angesichts der beiden Weltkriege plausibel erscheint.
Zweiter Weltkrieg nur auf Platz 9 der tödlichsten Konflikte
Dem hält Pinker eine Liste der «schlimmsten Dinge, die Menschen einander angetan haben» entgegen. Eine Liste, die vom amerikanischen Bibliothekar Matthew White 2010 zusammengestellt wurde (siehe hier). White hat aus einer Vielzahl historischer Schriften und Enzyklopädien eine Rangliste «menschlicher Abscheulichkeiten» erstellt, bei der er nicht nur die Opfer auf dem Schlachtfeld, sondern auch Todesfälle unter Zivilisten berücksichtigt hat, die indirekt durch Hunger und Krankheiten verursacht wurden.
Pinker hat diese absoluten Opferzahlen von White dann so umgerechnet, dass die unterschiedliche Grösse der Weltbevölkerung zur Zeit der einzelnen Ereignisse mitberücksichtigt wird. Dabei hat er als Referenz die Mitte des 20. Jahrhunderts angenommen: Opferzahlen früherer Ereignisse werden also mit demjenigen Faktor multipliziert, um den die Bevölkerung bis 1950 gewachsen ist. In der folgenden Grafik habe ich diese Liste visualisiert:
Selbstverständlich geht es hier nicht um genaue Zahlen, sondern lediglich um Grössenordnungen. Es scheint nach dieser Rangliste plausibel, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die auf dem 9. Und 16. Platz der Liste stehen (rot markiert) bei den Opferzahlen von einigen anderen «schlimmsten Dingen» übertroffen worden sind – insbesondere vom An-Lushan-Aufstand, der sich im 8. Jahrhundert in China abgespielt hat (die Zahlen in Klammer am Schluss der Ereignisse geben das Jahrhundert an, in dem sie stattgefunden haben).
Vielleicht haben Sie – wie ich auch – noch nie von diesem An-Lushan-Aufstand gehört. Und dasselbe gilt für mich auch für den Sturz der Ming-Dynastie (chinesische Kaiser) und für Timur Lenk (grausamer mongolischer Eroberer) – zwei Ereignisse, bei denen der Blutzoll wahrscheinlich ebenfalls höher gewesen ist als beim Zweiten Weltkrieg. Sicher besser bekannt sind bei uns die Mongolischen Eroberungen von Dschingis Khan, der Fall Roms, die Ausrottung der Indianer und die beiden Sklavenhandel, die alle ebenfalls vor dem Zweiten Weltkrieg rangieren.
Die beiden Weltkriege hatten die weitaus höchsten Todesraten seit 1800
Verlassen wir nun aber dieses spekulative Feld und betrachten wir die besten heute zur Verfügung stehenden Quellen über Kriegsopfer. Diese finden sich auf der Webseite «Our World in Data», und zwar vor allem im Übersichtsbeitrag «War and Peace» (siehe hier). Im Folgenden zeige ich daraus zuerst die Entwicklung der Kriegsopferzahlen in den letzten 200 Jahren. Dabei verwende ich die sogenannten Todesraten, mit denen die Zahl der Opfer pro 100’000 Menschen angegeben wird – die Bevölkerungsentwicklung wird so berücksichtigt.
Die nächste Grafik zeigt die jährlichen Todesraten der Kriegsopfer wegen Kampf sowie Krankheiten und Hunger in allen Kriegen von 1816 bis 2007 (siehe hier):
Wie in der Quellenangabe vermerkt, hat «Our World in Data» hier Daten aus dem Projekt «Correlates of War» von 2020 verarbeitet (siehe hier). Dabei werden die Kriegsopfer nach den Kategorien «Zwischenstaatliche Kriege» (Interstate, blau), «Bürgerkriege» (Intrastate, braunrot), «Kolonialkriege» (Extrastate, grün) und «ohne Beteiligung von Staaten» (Non-state, rot) unterschieden.
Das Bild zeigt eindrücklich, wie sehr sich der Erste Weltkrieg (1914-18) und der Zweite Weltkrieg (1939-45) bezüglich Opferquoten von allen übrigen Kriegen seit 1816 abheben: Ihr Blutzoll ist mindestens um den Faktor sechs höher als bei allen andern Kriegen. Im 19. Jahrhundert hat der Amerikanische Bürgerkrieg (1861-65) am meisten Tote gefordert, gefolgt von den Russisch-Persisch/Osmanischen Kriegen (1826-28 und 1877-78).
Nach dem Zweiten Weltkrieg sinkt die Quote der Kriegstoten
Weil aber auch diese Daten – je weiter zurück sie reichen – immer noch lückenhaft sind, werfen wir noch einen genaueren Blick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – der Zeit, der Steven Pinker den Namen «Der lange Frieden» gegeben hat. Die entsprechende Grafik für die Zeit von 1946 bis 2022 stammt wiederum von «Our World in Data» (siehe hier):
Für diese Zusammenstellung hat «Our World in Data» Angaben vom «Uppsala Conflict Data Program» (siehe hier) und vom «Peace Research Institute Oslo» (siehe hier) verarbeitet. Die Auswahl der erfassten Kriegsopfer ist dabei noch etwas enger gefasst, als in der Grafik zuvor: Jetzt werden nur Militärangehörige und Zivilisten gezählt, die direkt durch Kriegshandlungen getötet wurden.
Herber Rückschlag wegen des Ukrainekriegs
Die höchsten Opferraten, die in der ganzen Periode zu verzeichnen sind, liegen zwischen 1946 und 1952. Die Opfer sind dem Palästinakrieg und dem Ersten Kaschmirkrieg (beide 1947-49) zuzurechnen, sowie dem Koreakrieg (1950-53), der etwa drei Millionen Tote gefordert hat. Deutliche Spuren hat auch der Vietnamkrieg (1964-75) hinterlassen, währenddem die Jugoslawienkriege (1991-2001) und der Zweite Kongokrieg (1998-2003) wegen der stark gewachsenen Weltbevölkerung in dieser Quoten-Betrachtung nicht mehr so stark ins Gewicht fallen.
Auffällig ist schliesslich das Jahr 2022 mit dem Einfall Russlands in die Ukraine: Damit wird eine der friedlichsten Zeitspannen (1990-2020) jäh unterbrochen. Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass es wohl kaum je möglich sein wird, vor grossen Kriegen verschont zu bleiben.
Trotzdem zeigt die letzte Grafik, dass die Quote der Kriegstoten seit 1946 tendenziell rückläufig ist. Der Trend ist allerdings uneinheitlich: Er verläuft in langsam abklingenden Wellen. Immerhin scheint sich aber die Zivilisierung der Menschheit trotz Rückschlägen immer mehr durchzusetzen. Hoffen wir, dass diese positive Tendenz nicht durch die momentan wütenden Kriege nachhaltig zerstört wird.
Das ist ein hochinteressanter und hochaktueller Beitrag. Ich erkenne, wie verschoben die quantitative Wahrnehmung von (viel) früheren Kriegen gegenüber solchen aus der eigenen Lebenszeit-Wahrnehmung sind. Das eigene historische Wissen ist oft ungenügend um zu plausiblen Einschätzungen zu gelangen. Ich frage mich weiter: Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Soldatenopfern und Ziviltoten über die Kriege der Jahrhunderte? Wie entwickelten sich die Flüchtlingszahlen während und nach den Kriegen über die Zeiten?