In den letzten 10’000 Jahren ging ein Drittel der Wälder verloren – vor allem wegen der Landwirtschaft. Doch weil die Anbaumethoden immer effizienter werden, nimmt der Pro-Kopf-Bedarf an Boden seit Jahrzehnten ab. Möglicherweise kann die Waldzerstörung bald ganz gestoppt werden.
Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 44“ im Online-Nebelspalter vom 23. Mai 2022 zu lesen.
Seit der Agrarrevolution vor etwa 10’000 Jahren ist der Wald immer mehr unter Druck der Landwirtschaft geraten, die sich ausbreitete. Mit der Sesshaftigkeit wurde einerseits Holz als Baumaterial immer wichtiger. Andrerseits erforderte die Umstellung auf Ackerbau und Viehzucht immer mehr Landwirtschaftsland, das teilweise durch Feuerrodungen gewonnen wurde.
Bereits ein Drittel der Wälder zerstört
In der folgenden Grafik von der Webseite «Our World in Data» ist die veränderte Bodennutzung in diesen letzten 10’000 Jahre dargestellt (siehe hier). Wenn man von der gesamten Landfläche der Erde alle Gletscher, Berge, Wüsten und anderen unfruchbaren Regionen abzieht, gelangt man zu einem 106 Millionen Quadratkilometer grossen «fruchtbaren» Landteil, wo Pflanzen und Tiere leben können. Diese 71 Prozent der gesamten Landfläche sind in der Grafik als 100-Prozent-Bezugspunkt gesetzt: Alle Prozentangaben über den Anteil von Wald, Landwirtschaft, Buschland und Siedlungsgebiet beziehen sich darauf.
Der Titel der Grafik hält das Wichtigste fest: Ein Drittel der Wälder dieser Erde wurde in den letzten 10’000 Jahren durch die Menschheit zerstört. Dies kann man im linken Teil der Grafik ablesen, wo die Waldausdehnung (dunkelgrün) in Prozent angegeben ist. Im gesamten Zeitraum sinkt der Anteil von 57 auf 38 Prozent, das entspricht einem Verlust von 33 Prozent.
Rechts in der Grafik sieht man den Anteil des wilden Gras- und Buschlandes (hellgrün), das vor 10’000 Jahren zu 42 Prozent das Land bedeckt hat. Dieser «wilde» Landteil ist bis 1950 – viel stärker als der Wald – auf 12 Prozent gesunken. Seither hat er sich wieder etwas erholt.
In der Mitte zeigt die Grafik wie sich das Landwirtschaftsland – aufgeteilt in Ackerbau (Crops, orange) und Viehhaltung (Grazing, rosa) – bis 2018 sukzessive bis zu einem Anteil von 46 Prozent ausgedehnt und dabei den Wald und vor allem die Buschlandschaft verdrängt hat. Als besonders flächenintensiv entpuppt sich dabei die Milch- und Fleischproduktion: Sie benötigt gut doppelt soviel Boden wie der Ackerbau, obwohl sie zu unserem Kalorienbedarf deutlich weniger beiträgt als die Getreideproduktion.
Dramatische Beschleunigung des Waldverlusts nach 1900
Am Rande sei noch auf die Siedlungsfläche (violett) verwiesen: 2018 machte sie – wohl überraschend – nur ein gutes Prozent aus. Das Hauptproblem unseres Bevölkerungswachstums ist also nicht der stetig wachsende Bodenbedarf für die grossen Megacities, sondern der zusätzliche Landbedarf für die Herstellung unserer Nahrung.
Seit 1900 ging ein Waldgebiet von der Fläche der USA verloren
Doch zurück zum Wald. Aus der Grafik kann man herauslesen, dass sich der Prozess des Waldverlustes sehr ungleichmässig vollzogen hat: Für die erste Hälfte der gesamten Waldzerstörung von insgesamt 20 Millionen Quadratkilometern hat die Menschheit 9900 Jahre gebraucht, sie war im Jahr 1900 erreicht. Die zweite Hälfte haben wir dann in gut 100 Jahren «geschafft»: Seit 1900 haben wir nochmals ein Waldgebiet von der Fläche der USA verloren.
Stark abnehmende Waldrodungsfläche pro Kopf
Allerdings muss man diese Dramatik relativieren, indem man die Bevölkerungsentwicklung mitberücksichtigt, die ja ihrerseits einen direkten Einfluss auf die benötigte Landwirtschaftsfläche hat. Seit 1900 hat die Weltbevölkerung um knapp 6 Milliarden Menschen zugenommen, während sie in den fast 10’000 Jahren davor nur um 1,6 Milliarden gewachsen ist. Pro Kopf ist die notwendige Waldrodungsfläche also um fast als das Vierfache gesunken.
Der «Wald-Fussabdruck» der Menschheit war in früheren Zeiten also viel grösser: Die Menschen waren bis anfangs 19. Jahrhundert beim Heizen und Kochen fast vollständig von Holz abhängig, und weil ihre landwirtschaftliche Produktivität gering war, mussten sie viel Wald zur Gewinnung von Acker- und Weideflächen opfern.
Dies alles änderte sich fulminant mit der industriellen Revolution, was die nächste «Our World in Data»-Grafik für die Zeit ab 1700 zeigt (siehe hier).
Waldwachstum in den gemässigten Zonen seit 1990
Hier sind die globalen Waldflächenverluste pro Dekade seit 1700 aufgezeichnet. Dabei wird unterschieden zwischen Wäldern in gemässigten Zonen (grün) und solchen in den Tropen (braun), was weitgehend mit der Unterscheidung von entwickelten Ländern (Europa, Nordamerika, Australien) und Entwicklungs- oder Schwellenländern übereinstimmt. Die Entwicklung läuft entsprechend: In den entwickelten Ländern beginnt die Industrialisierung schon im 19. Jahrhundert, was steigende Bevölkerungszahlen und damit einen zunehmenden Waldverlust in diesen gemässigten Zonen (grün) zur Folge hat, der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts anhält. Danach sinkt er rasch ab, und verwandelt sich ab den 1990er Jahren sogar in einen Wiederaufforstungstrend.
Wachsender Wohlstand, verbesserte Technologie und erhöhte Produktivität bremsen die Bevölkerungszunahme und vermindern die Ressourcenabhängigkeit.
Dieser Prozess wird als «Wald-Transition» bezeichnet: Eine wachsende Bevölkerung ruft nach mehr Rohstoffen – in diesem noch wenig entwickelten Zustand ist das primär Holz. Zudem benötigt sie mehr Nahrungsmittel, was meist nur mit Waldrodungen erreicht werden kann. Der Wald kommt also buchstäblich unter die Räder, bis mit wachsendem Wohlstand, verbesserter Technologie und erhöhter Produktivität die Bevölkerungszunahme gebremst, die Ressourcenabhängigkeit vermindert und so der Wald wieder aufgeforstet werden kann.
Waldverlust seit den 1980er Jahren rückläufig
Ganz anders verläuft die Entwicklung aber in den Ländern im tropischen Bereich. Dort beginnt der Industrialisierungsprozess erst in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Weil aber in diesen asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Ländern viel mehr Menschen wohnen, und weil deren agrarische Produktivität zum grössten Teil noch sehr gering ist, führt das anfangs zu einer beispiellosen Explosion der Waldverluste (braune Balken): von den 10 Millionen Hektaren pro Dekade seit 1850 bis auf die 145 Millionen Hektaren in den 1980er Jahren (Für die Umrechnung: 100 Hektaren entsprechen einem Quadratkilometer). Das ist eine tragische Entwicklung, denn mit dem Wald verschwindet auch eine grosse Artenvielfalt an Fauna und Flora, die nicht wiedergutzumachen ist.
Aber was die Grafik auch noch zeigt, gibt Hoffnung: Wir haben mit den 1980er Jahren «peak forest» erreicht, also das Jahrzehnt mit der grössten Waldzerstörung aller Zeiten. In dieser Dekade sind 151 Millionen Hektaren Wald zerstört worden, das entspricht einer Fläche von der Grösse halb Indiens. Danach aber sehen wir einen raschen Rückgang des Waldverlustes in den Tropen: Nach drei Jahrzehnten ist er bereits um das Dreifache gesunken – und dies trotz weiterhin stark steigender Bevölkerung.
Offensichtlich gelingt es auch immer mehr Entwicklungs- und Schwellenländern, in den abschliessenden Teil des «Wald-Transitions»-Prozesses einzuschwenken, in dem sie ihren Waldbestand sichern oder sogar erweitern können. Wie können wir es also schaffen, dass dereinst die Wälder im globalen Rahmen nicht mehr gerodet werden müssen? Den entscheidenden Hinweis kann man aus der nächsten «Our World in Data»-Grafik ablesen.
Hier sind die Treiber für den Waldverlust im Brasilianischen Amazonas quantifiziert. In 63 Prozent der Fälle steckt die Gewinnung von zusätzlichem Weideland für die Fleischproduktion dahinter. Dazu kommen noch 21 Prozent für Ackerbau-Ansprüche. Über vier Fünftel der Waldrodungen geschehen in diesen tropischen Regenwäldern also wegen der Landwirtschaft.
Untergeordnete Rolle des Klimawandels
Wenn es uns also gelingt, in diesen zum Teil immer noch armen Ländern, die landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen massiv zu verbessern, das heisst den Ernteertrag pro Landfläche zu steigern und vor allem auch die Fleischproduktion immer mehr von ihrem Landverschleiss abzukoppeln, dann besteht die Hoffnung, dass es gelingen könnte, den verbleibenden Wald dereinst zu schützen.
Abschliessend zwei Bemerkungen:
1. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in diesem Text das Wort Klimawandel nie aufgetaucht ist – ganz im Gegensatz zur Berichterstattung in den Medien, wo Brände in tropischen Regenwäldern fast immer mit der Erderwärmung in Verbindung gebracht werden. Nach der hier vorgelegten Analyse spielt der Klimawandel aber offensichtlich bisher höchstens eine untergeordnete Rolle.
2. Wie sieht es mit der Waldentwicklung in der Schweiz aus? In den letzten hundert Jahren ist unsere Waldfläche von 21 auf 31 Prozent gestiegen, weil es uns gelungen ist, die Landwirtschaftsfläche von 56 auf 34 Prozent zu verkleinern. Gut gemacht, Schweiz!
Sehr erhellender Artikel. Interessant wäre auch noch die weltweite Entwicklung des Ackerlandes zur Nahrungsmittelproduktion in Abhängigkeit vom Einsatz des Kunstdüngers ab dem frühen 20.Jh. Nach der Ammoniaksynthese von Haber& Bosch war dank Kunstdünger eine viel intensivere Landwirtschaft mit immenser Landschaftseinsparung möglich. Hätte die Menschheit den Kunstdünger nicht, so wäre vermutlich der Wald noch immer am Verschwinden um den Globus zu ernähren.