Homo Sapiens Politik

Immerhin die Hälfte aller Länder sind Demokratien

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Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 116“ im Online-Nebelspalter vom 17. Juni 2024 zu lesen.

Unter Demokratie versteht man im Allgemeinen «Regierung durch das Volk». Damit ist gemeint, dass die Menschen ihre Regierung in freien und fairen Wahlen selbst bestimmen. Darüber hinaus bedeutet Demokratie aber auch, dass der Staat die individuellen Rechte seiner Bürger schützt, bis hin zum Schutz dieser Bürger vor der Staatsmacht selbst. Weiter können die Menschen in einer Demokratie bei wichtigen politischen Entscheidungen auf ihr Leben Einfluss nehmen, und die Regierenden sind dem Volk Rechenschaft schuldig.

Was wichtig ist:

– Moderne Demokratien tauchen in der Geschichte erstmals um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf.
– Nach einem grösseren Aufschwung ab Mitte des 20. Jahrhunderts ist heute etwa die Hälfte aller Länder demokratisch regiert – trotz kürzlicher Rückschläge.
– Noch immer gibt es aber zwischen den Ländern grosse Unterschiede bezüglich der Freiheit, demokratische Rechte auszuüben.

Demokratie kann also ziemlich unterschiedlich definiert werden. Eine Unterteilung der Länder in Demokratien und Autokratien, wie sie in der untenstehenden Grafik gezeigt wird, ist also ein Stück weit Ermessenssache. Ich folge hier den Recherchen des Teams der Website «Our World in Data» (siehe hier), das unterschiedliche Daten-Quellen berücksichtigt, die man auf ihrer Webseite miteinander vergleichen kann.

Die umfangreichste Datenquelle für Demokratien bietet das «V-Dem Dataset» (V-Dem steht für «Varieties of Democracy», siehe hier). Dieses Dataset stützt sich auf die Evaluationen von rund 3500 lokalen Länderexperten und eigenen Forschern des V-Dem-Institut ab, das an der schwedischen Universität Göteborg beheimatet ist. Drei Forschende dieses Instituts haben unter dem Titel «Regimes of the World» (RoW, siehe hier) eine spezifische Klassifikation aller Länder in einerseits Demokratien (zwei Arten) und andererseits Autokratien (zwei Arten) definiert:

  • Geschlossene Autokratie: Die Bürger haben nicht das Recht, die Regierung oder die Legislative aus mehreren Parteien zu wählen.
  • Elektorale Autokratie: Die Bürger haben zwar dieses Recht, aber es fehlen die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, wodurch die Wahlen weder frei noch fair sind.
  • Elektorale Demokratie: Die Bürger haben das Recht, die Exekutive und die Legislative in freien und fairen Mehrparteienwahlen zu bestimmen.
  • Liberale Demokratie: Über die elektorale Demokratie hinaus geniessen die Bürger Individual- und Minderheitenrechte, sie sind vor dem Gesetz gleich, und die Handlungen der Exekutive werden durch Legislative und Gerichte kontrolliert.

Die Geschichte der modernen Demokratie beginnt 1848 in der Schweiz

Die nächste Grafik zeigt die historische Entwicklung dieser vier Staatsformen von 1789 bis 2023 in prozentualen Anteilen:

Quellen: V-Dem / Our World in Data

Die roten und orangen Flächen zeigen die Anteile der beiden Autokratieformen. Mit den dunkel- und hellblauen Flächen sind die Anteile der Demokratien dargestellt. Das Ausgangsjahr 1789 ist dabei nicht zufällig gewählt: In diesem Jahr begann die Französische Revolution, die eine Reaktion auf die Unterdrückung des Volkes durch den König war. Sie legte in Europa den Grundstein für die Menschenrechte und die Demokratie. In den Jahrtausenden davor gab es in allen Staaten immer Herrschende (Könige, Päpste), Privilegierte (Adel, Klerus) und Unterdrückte (Bürger, Bauern, Sklaven), was die Etablierung einer Demokratie nicht zuliess.

Wie die Grafik zeigt, gab es aber bis zu den europäischen Revolutionen von 1848/49 nach den genannten Kriterien noch immer keine Demokratie, und erst ein Zehntel der Länder kannte eine elektorale Autokratie. Dann aber kam die Schweiz: Mit der Bundesverfassung von 1848 wurde sie zur ersten modernen Demokratie der Geschichte. Im gleichen Jahr wurde in Frankreich zusammen mit der Schweiz das allgemeine Wahlrecht (nur für Männer) eingeführt.

Heute ist rund die Hälfte aller Länder demokratisch

Damit begann eine Demokratie-Entwicklung, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch zögerlich verlief. Danach aber setzte eine deutliche Steigerung ein, die zu einem Höhepunkt zu Beginn unseres Jahrhunderts führte. Im Jahr 2005 waren 53 Prozent der Länder demokratisch regiert, fast die Hälfte davon als liberale Demokratien. Im letzten Jahrzehnt gab es jedoch Rückschläge: Bis 2023 sank der Anteil liberaler Demokratien auf 18 Prozent, und der Anteil der geschlossenen Autokratien stieg auf 19 Prozent.

Die nächste Grafik zeigt, wie sich die Bevölkerung im gleichen Zeitraum auf die verschiedenen Staatsformen aufteilt (siehe hier). Dabei ist die Weltbevölkerung im betrachteten Zeitraum um das Achtfache gestiegen:

Quellen: V-Dem / Our World in Data

Bei gleicher Farbgebung wie in der Grafik zuvor kann die Geschichte jetzt teilweise anders erzählt werden: Während 1798 erst 760 Millionen Menschen in einer geschlossenen Autokratie lebten, waren es 2023 2180 Millionen, fast dreimal mehr – zwei Drittel davon übrigens in China. Demgegenüber wird die Zahl der Menschen, die heute in Demokratien leben, hier mit 2350 Millionen angegeben. Anteilsmässig sind das aber nur knapp 30 Prozent, obwohl – wie wir gesehen haben – gut die Hälfte aller Länder demokratisch regiert sind.

Ist Indien noch eine Demokratie?

Diese Differenz ist darauf zurückzuführen, dass ein besonders bevölkerungsreiches Land wie Indien von einer Demokratie in eine Autokratie zurückgestuft wurde. In der obigen Grafik sieht man im Jahr 2017 eine markante Verkleinerung der hellblauen Fläche: Gemäss der Quelle RoW ist Indien mit seinen 1425 Millionen Einwohnern seither wieder nur eine elektorale Autokratie. Andere Datenquellen wie V-Dem räumen zwar ein, dass Indien weniger demokratisch geworden ist, führen das Land aber weiterhin unter Demokratien.

Diese unterschiedliche Beurteilung zeigt, wie gross der Ermessensspielraum ist, in dem die Wissenschaftler über ihre Einteilung entscheiden müssen. Eine weitere Betrachtungsweise zeigt das auf: Im bereits erwähnten V-Dem-Projekt wurde auch ein sogenannter «Index der elektoralen Demokratie» definiert (siehe hier). Dabei werden die Länder auf einer Skala zwischen null und eins eingestuft.

Die politischen Rechte sind heute gerechter verteilt

Je näher dabei die Bewertungszahl bei eins liegt, desto eher entspricht das politische System des entsprechenden Landes dem einer guten elektoralen Demokratie und erfüllt damit die folgenden Kriterien:

  • Die politische Führung (Exekutive und Legislative) wird in allgemeinen Wahlen bestimmt.
  • Alle erwachsenen Bürger haben das Wahlrecht.
  • Die Wahlen finden frei und fair statt.
  • Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen können frei gebildet werden.
  • Freie Meinungsäusserung ist gewährleistet.

Die nächste Grafik zeigt den Stand dieses Index von 2023:

Quellen: V-Dem / Our World in Data

Wenn man diesen Stand von 2023 mit früher vergleicht, sieht man dass die Verteilung egalitärer geworden ist: Während vor hundert Jahren die Unterschiede zwischen den wenigen (europäischen) Ländern mit hohen Werten und der grossen Mehrheit schlecht klassierter Länder sehr gross waren, haben sich diese bis heute stark verkleinert. Noch immer aber gibt es alle Abstufungen politischer Rechte von der idealen bis zur nicht existierenden Demokratie.

An der Spitze dieser Liste stehen – nicht erstaunlich – fast nur europäische Länder. Auf den ersten acht Plätzen findet man Dänemark (0.92), Irland, Estland, Belgien, Schweiz (0.89), Norwegen, Neuseeland und Schweden. Den Schluss bilden die Vereinigten Arabischen Emirate (0.1), Katar, Nordkorea, Myanmar, Afghanistan, China (0.07), Eritrea und abgeschlagen Saudiarabien (0.01).

Bei einem Weltdurchschnitt von 0.49 liegen die europäischen Länder (in der Grafik dunkelblau markiert) mit 0.73 deutlich an der Spitze im Ranking der Kontinente. Gegenüber anderen Ländervergleichen, bei denen Afrika meist am Ende anzutreffen ist, liegt Afrika (violett) mit 0.38 hier erstaunlicherweise noch vor dem Schlusslicht Asien (grün) mit 0.33.

Trotz allen Unwägbarkeiten: Dass heute die Hälfte aller Länder und 30 bis 50 Prozent aller Menschen in demokratischen Staaten leben, ist eine historische Novität und trägt seinen Teil zur Fortschrittsgeschichte der Menschheit in den letzten 200 Jahren bei.

200 Jahre Fortschrittsgeschichte

1820 lebte eine Milliarde Menschen in grosser Armut. Krieg, Hunger und Tod waren allgegenwärtig. Dann setzte eine beispiellose Entwicklung ein. Heute wird die Erde von acht Milliarden Menschen bevölkert. Die Wirtschaftsleistung ist um das Hundertfache gestiegen, und die Menschen leben im Schnitt so lange wie nie zuvor.
Ich gehe in einer Serie einigen zentralen Aspekten dieser Fortschrittsgeschichte nach – wie immer illustriert durch einschlägige Grafiken.

Bisher erschienen:
Reichtum und Wohlstand dank wirtschaftlichem Wachstum: siehe hier
Extreme Armut ist stark zurückgegangen: siehe hier
Massiver Rückgang der Kindersterblichkeit: siehe hier
Genug zu essen für alle: siehe hier
Ungeplantes Glück: Wir werden immer älter: siehe hier
Impfen rettet Millionen von Menschenleben: siehe hier
Immer weniger Kriegstote seit dem Zweiten Weltkrieg: siehe hier

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