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Mehr Opfer wegen Hitzewellen? Fehlanzeige.

Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 82“ im Online-Nebelspalter vom 18. September 2023 zu lesen.

Vor kurzem hat «Nebelspalter»-Redaktor Alex Reichmuth eine neue ETH-Studie kritisiert, die von der Hochschule unter dem Titel «Hitzewellen werden häufiger und tödlicher» angekündigt worden ist (siehe hier). Der «Nebelspalter»-Beitrag führt mehrere Quellen an, die der Behauptung der ETH-Studie, es gebe immer mehr hitzebedingte Todesfälle, widersprechen. Ich gehe hier nur auf die für die Schweiz relevante Studie des Swiss TPH (Schweizerisches Tropen- und Public Health Institut) genauer ein und stelle dann das Thema in einen erweiterten Kontext der allgemeinen Sterblichkeit in der Schweiz. 

Was wichtig ist:

– In der Schweiz geht die Zahl hitzebedingter Todesfälle seit dem Jahr 2000 tendenziell zurück.
– Es gibt im Winter mehr Todesfälle von Menschen über 65 Jahren als im Sommer.
– Die Zahl der Todesfälle pro 100’000 Einwohner sinkt seit Jahrzehnten.

Es ist unbestritten, dass Hitzewellen in der Schweiz häufiger vorkommen als früher. Die Annahme, dass damit auch die Zahl der dadurch verursachten Opfer gestiegen ist, ist aber falsch.

Das Swiss TPH hat im Juli im Auftrag des Bundes einen sogenannten Synthesebericht «Monitoring hitzebedingte Todesfälle 2000 bis 2022» publiziert (siehe hier). Darin wird die Anzahl Todesfälle, die «statistisch auf die Hitzebelastung in der Schweiz zwischen Mai und September zurückzuführen sind», aufgelistet und diskutiert.

«Moderat», «heiss» und «sehr heiss»

Das Tropeninstitut schätzt die Zahl der Todesfälle anhand einer sogenannten «attributablen Fallberechnung» – in Ergänzung zum rein statistischen Sterblichkeits-Monitoring des Bundesamtes für Statistik. Ein solcher kausaler Zusammenhang wird hergestellt, indem Tagesmitteltemperaturen und Sterblichkeitszahlen so miteinander verknüpft werden, dass man sieht, wie sich bestimmte Temperaturen auf die Sterbehäufigkeit auswirken.

Diese Berechnungen werden für drei Temperaturbereiche gemacht, bei denen Meteo Schweiz jeweils spezielle Hitzewarnungen herausgibt (siehe hier). Die Temperaturbereiche sind mit «moderat», «heiss» und «sehr heiss» bezeichnet. Die folgende Grafik, die ich aufgrund der Studie des Tropeninstituts erstellt habe, zeigt die jährliche Zahl der hitzebedingten Todesfälle im Zeitraum von 2000 bis 2022:

Quelle: Swiss TPH / Martin Schlumpf

Die Temperaturbereiche «moderat» (gelb), «heiss» (orange) und «sehr heiss» (rot) beziehen sich auf die mittleren Tagestemperaturen. Als Hitzewelle gelten bei Meteo Schweiz nur die hier mit «heiss» (über 25 Grad) und «sehr heiss» (über 27 Grad) bezeichneten Bereiche.

Die Zahl der Todesfälle wegen Hitze sinkt

Es fällt auf, wie stark sich die Jahre voneinander unterscheiden: Im Rekordjahr 2003 waren 1402 Todesopfer wegen Hitze zu beklagen, während es 2021 nur 89 Todesfälle gab. Entscheidend ist aber den generellen Trend. Diesen habe ich selber ermittelt (grau gestrichelt), weil er in der Studie nicht gezeigt wird: Die Zahl der Menschen, die in den Sommermonaten im Schnitt wegen Hitzewellen gestorben sind, ist von etwa 500 auf rund 300 gesunken. Wobei es von Jahr zu Jahr grosse Abweichungen gibt.

Dieser Trend wird in der Studie nur am Rande erwähnt. In der Zusammenfassung steht: «Über die Zeit lässt sich eine leichte Abnahme des hitzebedingten Sterberisikos an Hitzetagen beobachten.» Und die Autoren folgern zu recht, «dass sich die Gesellschaft an die zunehmende Hitzebelastung teilweise angepasst hat.»  

Bevölkerungswachstum ist nicht berücksichtigt

Die obige Grafik zeigt absolute Zahlen von Todesfällen. Nicht berücksichtigt ist, dass die Schweizer Bevölkerung seit 2000 um 1,6 Millionen Menschen oder 22 Prozent gewachsen ist. Würde man diesen Zuwachs in ein Pro-Kopf-Risiko der hitzebedingten Sterblichkeit umrechnen, wäre der Abwärtstrend noch ausgeprägter.

Die «attributable» Methode, die in dieser Studie angewendet wird, hat aber ihre Tücken. Denn wenn beispielsweise eine über 90-jährige Frau an einem heissen Sommertag in einem Altersheim auf natürliche Weise stirbt, erscheint sie in dieser Statistik als Hitzeopfer. Würde sie aber im Winter sterben, wäre sie nicht ein «Kälteopfer», weil eine solche Kategorie gar nicht existiert.

Es stellt sich also die Frage, ob es neben einer Kategorie Hitzesterblichkeit auch eine Kategorie Kältesterblichkeit braucht. Die Antwort ergibt sich, wenn man den Verlauf der generellen Sterblichkeit über mehrere Jahre betrachtet. Diesen Verlauf sieht man in der folgenden Grafik:

Quelle: BFS

Die Grafik stammt vom Bundesamt für Statistik. Sie zeigt sämtliche Todesfälle pro Woche in der Schweiz von 2010 bis 2023 (siehe hier). Die obere Kurve entspricht der Zahl der Todesfälle unter den Über-65-Jährigen. Die untere Kurve entspricht der Zahl der Todesfälle unter allen jüngeren Menschen. Die Kurven sind blau gefärbt, wenn sich die Todesfälle im statistisch zu erwartenden Bereich befinden, der als graues Band erkennbar ist. Verlassen sie diesen Bereich – man spricht dann von Über- oder Untersterblichkeit – sind die Kurven rot gefärbt.

Es sterben mehr alte Menschen im Winter als im Sommer

Auf den ersten Blick erkennt man, dass die obere Kurve periodisch stark schwankt, während die untere weitgehend gleichmässig verläuft. Dabei zeigt sich, dass die Schwankungen bei der Bevölkerung über 65 Jahre im Jahresrhythmus verlaufen. Konkret gibt es im Winter deutlich mehr Todesfälle als im Sommer. Grundsätzlich ist das Sterberisiko von alten Menschen im Winter also viel grösser als im Sommer.

Und das gilt auch unter Einbezug aller Hitzetoten, die in der ersten Grafik angeführt sind. Dies wird klar, wenn man den Sommer 2015 betrachtet, den ich mit einem grünen Strich markiert habe. Wie die erste Grafik zeigt, war 2015 der schlimmste Hitzesommer seit 2010. Die dort verzeichnete Übersterblichkeit im Sommer ist in der Grafik aller Todesfälle aber nicht mehr als eine Art Randnotiz – vor allem, wenn man sie mit der Übersterblichkeit während der Grippewellen im Winter 2015 und 2017 vergleicht.

Das allgemeine Sterberisiko nimmt seit Jahrzehnten ab

Das Sterberisiko alter Menschen ist im Winter also viel höher. Es gibt somit keine sachliche Grundlage, immer nur vor Hitzewellen zu warnen, während «Kältewelle» nicht einmal als Begriff existiert. Dieses Missverhältnis hat wohl auch damit zu tun, dass der Begriff Hitzewelle an den angeblich so bedrohlichen Klimawandel erinnert. Das wiederum zieht die Aufmerksamkeit der Medien an. Der Begriff «Grippewelle» hingegen, der auf den Winter bezogen ist, hat keinen Bezug zur Erderwärmung und deshalb viel weniger Anziehungskraft.

Daraus ergibt sich aber eine falsche Gewichtung: Denn die steigenden Temperaturen der letzten Jahrzehnte haben in der Schweiz offensichtlich dazu geführt, dass die Zahl der Todesfälle auch im Winter sinkt. Dies wird bestätigt durch die nächste Grafik, welche die Entwicklung der Todesfälle pro Einwohner in der Schweiz seit 1970 zeigt (siehe hier). Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen ist die sogenannte Sterbeziffer pro 100’000 Einwohner in den letzten 50 Jahren kontinuierlich um rund 60 Prozent zurückgegangen. Mit anderen Worten: Die Lebenserwartung in der Schweiz steigt immer mehr an – Hitzewellen hin oder her.

Quelle: BFS

1 Kommentar zu “Mehr Opfer wegen Hitzewellen? Fehlanzeige.

  1. Hedi Bussmann

    Zurzeit läuft alles auf das gleiche Phänomen hinaus: diese Hitzewelle ist an allem schuld. Eben, an den Hitzetoten (wie sind diese genau zu Tode gekommen, verdurstet oder überhitzt oder ganz einfach verstorben, weil sie zwischen 85 und 99 Jahre alt waren?), an zuwenig oder zuviel Niederschlägen, an den Missernten, an der Bevölkerungsmigration, ja sogar an der Inflation…

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