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Mit der Atom-Abwärme könnte man alle Schweizer Haushalte heizen

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Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 93“ im Online-Nebelspalter vom 11. Dezember 2023 zu lesen.

Ein Kernkraftwerk kann aus physikalischen Gründen nur ein Drittel der eingesetzten Primärenergie in Strom verwandeln, der Rest muss als Abwärme abgeführt werden. Diese energietechnische Ineffizienz würde verbessert, wenn mit dieser nuklearen Abwärme in einem Fernwärmenetz eine Reihe von Gebäuden geheizt werden könnten. In China ist das gerade in einer kleineren Stadt realisiert worden.

Was wichtig ist:

– In den Kernkraftwerken, die bisher gebaut wurden, gehen zwei Drittel der Energie als Abwärme verloren.
– Mit der Abwärme unserer Kernkraftwerke könnte man aber sämtliche Schweizer Haushalte heizen.
– Weltweit gibt es immer mehr fossil betriebene Fernwärmenetze. Nur in wenigen Netzen wird aber Kernenergie eingesetzt. Eines davon läuft in der Schweiz.

Wie aber ist es möglich, Wärmeenergie aus einem Kernkraftwerk zu entnehmen und in ein Fernwärmenetz zu leiten? Die folgende Grafik zeigt die einzelnen Schritte dieses technischen Prozesses im Kernkraftwerk Beznau I. Diese Schritte sind notwendig, um Wärmeenergie für das Netz «Regionale Fernwärme Unteres Aaretal» (Refuna) im Kanton Aargau bereitzustellen. Es ist das einzige nukleare fernwärmenetz, das in der Schweiz existiert.

Quelle: Axpo

Die Grafik ist der Broschüre «Kernkraftwerk Beznau» des Energieunternehmens Axpo entnommen (siehe hier). Der Prozess der Wärmebereitstellung beginnt im Reaktordruckgefäss (2), das sich im Sicherheitsgebäude ganz links befindet. Dort wird das Kühlwasser, das aus der Aare kommt, durch die Wärme der Brennstäbe stark erhitzt. So gelangt das Kühlwasser in den Dampferzeuger (7), aus dem heisser Dampf ins Maschinenhaus rechts geleitet wird. Nach der Hochdruckturbine (14) wird ein Teil des Dampfes für die Fernwärme ausgekoppelt (19). Im Wärmetauscher (20) wird schliesslich das Heisswasser erzeugt, mit dem die bei Refuna versorgten Gebäude geheizt werden.

Laut dem neuesten Geschäftsbericht der Betreibergesellschaft Refuna AG (siehe hier) werden aktuell 11 Gemeinden mit total 2708 Wärmeanschlüssen – vor allem in Einfamilienhäusern – mit Fernwärme versorgt, die in Beznau erzeugt wird. Mit einer Wärmeproduktion von durchschnittlich 175’000 Megawattstunden pro Jahr können 35’000 Standard-Haushalte geheizt und mit Warmwasser versorgt werden.

Die Hälfte der nuklearen Abwärme zu nutzen, scheint möglich zu sein

Nun stellt sich die Frage, wie viele Schweizer Haushalte man heizen könnte, wenn die Abwärme aller vier Kernkraftwerke genutzt würde. Die thermische Leistung der Kernkraftwerke Beznau I und II, Gösgen und Leibstadt beträgt 8,9 Gigawatt (Achtung: nicht zu verwechseln mit der elektrischen Leistung). Aus einem solchen Leistungspotenzial könnte eine jährliche Energieproduktion von 63,6 Terawattstunden erwartet werden, sofern man eine Arbeitsauslastung von 82 Prozent annimmt.

Die nächste Grafik zeigt, wie viele Haushalte in der Schweiz geheizt werden könnten, wenn man von einer realistisch eingeschätzten Wärmeerzeugung der KKW ausgeht.

Quelle: Ensi/BfS/Martin Schlumpf

Mit dem obersten Balken ist die bisherige Realität abgebildet: Ein Drittel der erwarteten durchschnittlichen jährlichen Energieproduktion von 63,6 Terawattstunden kann als Elektrizität ins Stromnetz eingespeist werden, das sind 21,2 Terawattstunden. Darüber hinaus nehme ich an, dass ein weiteres Drittel von 21,2 Terawattstunden theoretisch für die Wärmeproduktion verwendet werden könnte (zweitoberster Balken). Dies scheint im Bereich des Möglichen zu sein, denn ein Fachartikel zu diesem Thema kommt zu folgendem Schluss: «Ein optimal gestaltetes System der Strom- und Wärmeproduktion könnte die Energieeffizienz einer Nuklearanlage von 33 auf 80 Prozent steigern.» (siehe hier) Weil die Effizienz bei meiner Annahme aber erst bei 66 Prozent liegt, scheint sie realistisch zu sein.

Mit der Abwärme der KKW könnte man alle Schweizer Haushalte heizen

Auf der dritten Zeile der Grafik habe ich die 175’000 Megawattstunden aufgezeichnet, mit denen – laut erwähntem Refuna-Geschäftsbericht von 2022/23 – jährlich im Durchschnitt 38’000 sogenannte Standard-Haushalte versorgt werden können. Unter Standard-Haushalt wird dabei ein Zweipersonen-Haushalt mit einer Wärmeleistung von 2,5 Kilowatt verstanden. Mit den im gleichen Bericht angegebenen 2000 Vollaststunden, in denen pro Jahr Wärme geliefert werden muss, ergibt sich ein Wärmebedarf von 5 Megawattstunden pro Haushalt.

Laut Bundesamt für Statistik gibt es in der Schweiz rund vier Millionen Haushalte, mit einer durchschnittlichen Grösse von 2,18 Personen (siehe hier). Weil dies praktisch dem Standard-Haushalt aus dem Refuna-Bericht entspricht, können wir hochrechnen, wie gross die Wärmeproduktion sein müsste, um alle Schweizer Haushalte mit Wärme versorgen zu können: Insgesamt müssten 20 Millionen Megawattstunden dafür zur Verfügung stehen. Das sind, wie in der Grafik auf der untersten Zeile gezeigt, 20 Terawattstunden – also etwas weniger, als die 21,2 Terawattstunden aus unserern Kernkraftwerken. Die Abwärme der KKW würde also reichen, um alle Schweizer Haushalte zu heizen.

Mit einer solchen Strategie würde die Substitution fossiler Heizungen durch Wärmepumpen und damit auch der Mehrverbrauch an Strom im Winter wegfallen.

Fossile auf nukleare Fernwärme umrüsten

Auch im globalen Massstab scheint es eine vielversprechende Zukunftsoption zu sein, bereits bestehende Fernwärme-Systeme, die bis heute noch zum grössten Teil fossil betrieben werden, so umzurüsten, dass die Wärmeenergie aus Kernkraftwerken kommt. Das würde zu einer markanten Verbesserung der Luftqualität und der Treibhausgas-Bilanz führen. Und offenbar gibt es – gemäss dem schon erwähnten Fachbericht über nukleare Fernwärme – vor allem auch in den USA immer mehr Städte, in denen Fernwärme-Systeme neu gebaut, oder Städte, in denen alte Systeme erneuert oder erweitert werden. Diese Fernwärme-Syteme wären für eine Umrüstung auf Kernenergie bereit.

Die politischen Widerstände gegen Atomkraft dürften aber so gross sein, dass solche Umrüstungen, die punkto Umweltschutz und Energieeffizienz eigentlich ideal wären, kaum realisierbar scheinen – gerade in den Vereinigten Staaten. Das gilt vor allem auch deshalb, weil neue Kernkraftwerke relativ nahe bei den Städten gebaut werden müssten, die sie mit Wärme versorgen sollen: Der urbane Anti-Atomreflex dürfte in vielen modernen Industriestaaten solche Lösungen verhindern.

China macht es vor

Das ist in China anders, wo vor kurzem grosse Teile der Städte Haiyang (639’000 Einwohner) und Rushan (572’000 Einwohner) in der Provinz Shandong am Gelben Meer mit einem Fernwärme-System ausgerüstet wurden. Die Wärmeenergie stammt dabei aus der Nuklearanlage Haiyang, die aus zwei Kraftwerksblöcken vom Typus Westinghouse AP1000 besteht (siehe hier).

Quelle: CC

Diese zwei Reaktoren gingen 2018/19 ans Netz. 2020 begann man mit dem Bau eines Fernwärmenetzes, das heute nach Angaben des chinesischen Betreibers «State Power Investment Corporation» im Winter 400’000 Menschen mit Wärme versorgt. Weil damit zum grössten Teil alte Kohleheizungen ersetzt wurden, konnten so 390’000 Tonnen Kohle eingespart werden, wodurch die Luftqualität in Haiyang City markant besser wurde.

Und ein letzter Punkt: Für die Versorgung dieser Städte haben die Chinesen eine 23 Kilometer lange Pipeline gebaut, in der das Heisswasser transportiert wird. Das Haiyang-Modell könnte man spekulativ auf die Schweiz übertragen: Zürich, mit seinen 440’000 Einwohnern, liesse sich durch eine 30 Kilometer lange Pipeline mit Wärme aus dem Kernkraftwerk Leibstadt versorgen.

6 Kommentare zu “Mit der Atom-Abwärme könnte man alle Schweizer Haushalte heizen

  1. Torsten Gürges
    Torsten Gürges

    Für Ballungsgebiete wäre das technisch sicher realisierbar. Ausserhalb davon-gerade in einem Land mit der Topographie der Schweiz-eher schwierig bzw. SEHR teuer.
    Einige weitere Punkte:
    1.) Wie von Herrn Krähenmann genannt: Fällt eine Großstruktur aus welchen Gründen auch immer aus, fehlt nicht nur elektrische Energie, sondern auch die Wärme.
    2.) Die Angaben im Refuna Geschäfstbericht beziehen sich auf 5000 kWh Wärmebedarf für einen 2 Personen Haushalt. Das stimmt nur, wenn die Gebäude (fast) auf Neubausstandard gedämmt sind!
    Denn: Durchschn. Wohnfläche pro Person in der CH 46,5m², also 93 m² bei 2 Pers. (das BfS kommt auf 46,6m² p.P.).
    https://de.statista.com/statistik/daten/studie/560485/umfrage/wohnflaeche-pro-bewohner-in-wohnungen-in-der-schweiz/

    5000kWh pro Jahr/93m² = 53,8 kWh/m² pro Jahr. Das ist nur mit fast neuen Häusern oder teurer, nachträglicher Dämmung zu erreichen. Über 80% der Wohngebäude stammen aber von vor 2000 und ca. 60% von vor 1980. Anmerkung: Es gibt ca. 1,8 Mio Wohngebäude in der Schweiz:
    https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bau-wohnungswesen/gebaeude/periode.html
    Diese erreichen den entsprechenden Wert nicht annähernd:
    https://www.wegatech.de/ratgeber/durchschnittlicher-verbrauch-heizung-kwh/

    Provokante Frage: Dämmung der meisten Gebäude auf fast Neubaustand. Verlegung eines Fernwärmenetzes, evtl. zusätzliche(!) Wärmepumpen, wie teilweise vorgeschlagen. Und das wäre nur der Bereich, den man für die Wohngebäude angehen müsste. Immer unter der Voraussetzung, dass es kalorische Kraftwerke überhaupt weiterhin in der Schweiz gibt.
    Alternativ: Wärmepumpen überall mit einem Energiebedarf im Winter, der ohne zusätzliche(!) kalorische Kraftwerke gar nicht zu decken ist… Oder „Wasserstoff“, der völlig unbezahlbar wird, wenn er wirklich „grün“ sein soll…
    Ist das in relativ kurzer Zeit (2040/2050) überhaupt machbar und bezahlbar ohne die Gesellschaft komplett zu ruinieren?
    Wäre es nicht sinnvoller die natürliche Modernisierung der Gebäude abzuwarten und eben günstige(!) Energie zur Verfügung zu stellen, um Innovationen zu ermöglichen?

  2. Paul Kundert
    Paul Kundert

    Die Isolationstechnik ist heute soweit, dass grosse Heiss- Warmwasserleitungen auch auf 30 km bis 40 km Distanz die Wärme halten. Ein Verbund mit Kernkraftwerk – Fernwärme – Vorort Wärmepumpen ergibt eine CO2 freie, kostengünstige Wärmeversorgung. Und parallel dazu gleichzeitig elektrische Bandenergie.
    Ein unschlagbarer Mix.
    Technisch scheint dies mehr als in der Erprobung zu stecken. Wenn das im Kleinen im Aargau funktioniert, funktioniert es auch im Grossen z.B. für die Stadt Zürich.
    Hier sind die Parteien gefragt, die auf Atom setzten. Will man in der Schweiz wieder neue Kernkraftwerke bauen, muss zuerst ein beachtlicher Teil der Bevölkerung überzeugt werden, dass z.B. solche Verbundsysteme während mindestens 6 Monaten im Jahr alternativlos überlegen sind, zu wesentlich tieferen KWh Kosten. Ein klassischer PR Fall.

  3. Hans Faust
    Hans Faust

    Komisch, dass man nicht schon früher auf diese Idee gekommen ist?

  4. Walter Krähenmann
    Walter Krähenmann

    Sehr interessante Perspektive (andernorts Realität). Allerdings mit einem grossen Schwachpunkt: wir sollten nicht grossflächig Verbraucher an die gleiche Quelle hängen. Fällt sie aus, frieren alle!
    Genau so schlecht ist die aktuelle Entwicklung, alles von Papier auf IT umzustellen. Fällt der Strom aus, ist alles tot. Digitalisierung ist eine unüberlegte (aber profitable 😉 ) Entwicklung.
    Besser wäre, kleine AKWs zu entwickeln, die dezentral an vielen Standorten Strom und Wärme produzieren würden.
    Bei den grossen AKWs warte ich auf Fusionsreaktoren, mit denen wir auch die bestehenden Lager an Brennstäben wieder verwenden können, anstatt lange nach einer „Entsorgung“ (Gegenteil von Recycling)
    in unterirdischen Gefilden zu suchen.

    • Torsten Gürges
      Torsten Gürges

      Der Hinweis auf redunante Strukturen gerade bei der Wärmeversorgung (aber nicht nur dort) ist sehr wichtig.
      Die Wiederverwendung von „Atommüll“ würde mit Konzepten wie Brutreaktoren der Generation IV deutlich einfacher sein. Zumal sind diese deutlich näher an der Serienreife als die Fusionsforschung.

  5. René Weiersmüller
    René Weiersmüller

    Wenn ich mich richtig erinnere, haben Conrad U. Brunner und Bruno Wick vor etwa 45 Jahren so etwas ähnliches in einem Bericht (heute heisst das Studie) vorgeschlagen. Im Sinne von kaltem bzw. lauwarmem Fernwärmenetz, das mit lokalen Wärmepumpenanlagen für die Gebäudeheizung genutzt wird.

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