Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 86“ im Online-Nebelspalter vom 16. Oktober 2023 zu lesen.
In den letzten 200 Jahren hat die Menschheit eine beispiellose Fortschrittsgeschichte erlebt: eine Entwicklung, die uns reicher, freier, gesünder, sicherer, älter und gebildeter gemacht hat. Und das Ausmass dieses Fortschritts ist tatsächlich «noch nie dagewesen» (unprecedented). Deshalb zeigen alle Grafiken, die sich mit bestimmten Aspekten dieses Fortschritts beschäftigen und einen längeren Zeithorizont abbilden, die aus der Klimadebatte bekannte typische «Hockeyschläger-Form»: Lange Zeit passiert fast nichts (der waagrecht am Boden liegende Stiel), und dann, ab Beginn des 19. Jahrhunderts setzt eine rasante Entwicklung ein, die kontinuierlich nach oben weist (die Schaufel).
Was wichtig ist:
– Das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Welt ist in den letzten 200 Jahren um das Hundertfache gestiegen.
– Pro-Kopf ist es immerhin ein Anstieg um das 13-fache.
– Ein Schweizer ist heute gut 20-mal reicher als ein Sub-Sahara-Afrikaner – aber selbst in dieser ärmsten Region der Welt ist das BIP gewachsen.
Als erste und wahrscheinlich wichtigste Facette unserer Fortschrittsgeschichte gehe ich hier auf die Entwicklung der Wirtschaft ein. Nachdem die meisten Menschen während vielen Tausenden von Jahren äusserst arm gewesen sind, haben es viele in den letzten 200 Jahren dank des Wirtschaftswachstums geschafft, zu mittlerem oder sogar grossem Reichtum zu gelangen. Und dieser Reichtum hat sie in die Lage versetzt, ihre Lebensbedingungen stark zu verbessern. Sie sind zu mehr Wohlstand gelangt.
Ein Wirtschaftswachstum, das über längere Zeit angehalten hat, ist zum ersten Mal im 18. Jahrhundert in Europa aufgetreten. Davor gab es lokal zwar auch wirtschaftliche Boomzeiten, diese wurden jedoch immer wieder durch Hungersnöte, Naturkatastrophen, Kriege oder Epidemien unterbrochen.
Ab 1900 wächst die Wirtschaft jährlich mit drei Prozent
Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Wirtschaft anhand des BIP pro Kopf seit dem Beginn unserer Zeitrechnung für ausgewählte Länder.
Die Grafik wurde von Forschern des Projekts «Our World in Data» erstellt (siehe hier). Sie haben sich dabei auf die «Maddison Project Database 2020» der Universität Groningen abgestützt (siehe hier), in der quantitative Aussagen zum Wirtschaftswachstum über lange Zeiträume gemacht werden. Solche Aussagen sind selbstverständlich mit vielen Unsicherheiten behaftet. Trotzdem kann die Entwicklung des BIP pro Kopf (englisch GDP) auf diese Weise in groben Zügen rekonstruiert werden. Das BIP wird dabei in sogenannten Internationalen Dollars gemessen, mit denen alle Inflations- und Kaufkraft-Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern weitgehend eliminiert werden.
Die Grafik zeigt, dass es bis ins 17. Jahrhundert nur marginale Verbesserungen gegeben hat. Die Forscher schätzen das Wirtschaftswachstum ab dem Jahr 1500 auf durchschnittlich 0,3 Prozent pro Jahr. Von 1820 bis 1900 liegt es dann im Schnitt bei 1,3 Prozent pro Jahr, während es im 20. Jahrhundert sogar auf jährlich über 3 Prozent ansteigt.
Wirtschaftswachstum zu messen ist eine Herausforderung
In der Grafik ist ausserdem erkennbar, dass ein stetiges Wachstum zuerst in Grossbritannien und dann in den USA einsetzt, während die übrige Welt erst später auf diesen Zug aufzuspringen vermag. China beispielsweise kann ein anhaltendes Wachstum erst ab den 1980-er Jahren kreieren, dann allerding in horrendem Tempo.
Was bedeutet Wirtschaftswachstum aber genau? Eine Definition dieses Begriffs ist relativ klar: Man versteht unter Wirtschaftswachstum die Zunahme der Menge und der Qualität von wirtschaftlichen Gütern und Dienstleistungen, die ein Land produziert. Es handelt sich also sowohl um eine quantitative Steigerung als auch eine qualitative Verbesserung dessen, was die Menschen täglich in der Wirtschaft leisten: Sie produzieren Güter (zum Beispiel Traktoren), und sie erbringen Dienstleistungen (zum Beispiel Spitalpflege).
Immer wieder gab es wirtschaftliche Rückschläge, welche die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Frage gestellt haben – aber nur vorübergehend.
Mit dem schon erwähnten BIP wird das Total all dieser Güter und Dienstleistungen erfasst. Äusserst schwierig wird es aber beim Messen des BIP, weil dann bei allen möglichen wirtschaftlichen Gütern und Dienstleistungen definiert werden muss, ob sie bei der Berechnung des BIP mitgezählt werden sollen. Gehört zum Beispiel private Hausarbeit dazu?
Unabhängig von den Problemen, die sich bei der Berechnung des BIP ergeben, benutze ich es hier als die meist verwendete Masseinheit, um überhaupt Vergleiche zwischen Ländern und Regionen machen zu können.
Die Welt ist heute hundertmal reicher als vor 200 Jahren
Mit der nächsten Grafik schauen wir uns die Fortschrittsgeschichte der letzten 200 Jahre genauer an – die Zeit also, die von der amerikanischen Ökonomin Deirdre McCloskey als «The Great Enrichment» bezeichnet wurde (übersetzt vielleicht als «Der grosse Wohlstand»):
Auch diese Grafik stammt von «Our World in Data» und zeigt im Zeitraum von 1820 bis 2018 wiederum das BIP pro Kopf in Internationalen Dollars. Betrachten wir zuerst die Kurve für die Welt (World) insgesamt: Von 1102 Dollar steigt das BIP pro Kopf mit zunehmender Geschwindigkeit auf 14’700 Dollar. Der durchschnittliche Erdenbürger ist 2018 also 13-mal reicher als sein Vorfahre im Jahr 1820. Weil aber die Weltbevölkerung seit 1820 um den Faktor acht gewachsen ist, hat sich der absolute wirtschaftliche Reichtum der Welt in diesen 200 Jahren sogar verhundertfacht.
Die Schweiz ist fünfmal reicher als die Welt insgesamt
Eine so gewaltige Steigerung des wirtschaftlichen Potenzials der gesamten Welt in so kurzer Zeit ist in der Geschichte beispiellos. Die Grafik zeigt aber ausserdem, dass es Regionen gibt, die noch viel stärker gewachsen sind – nämlich der sogenannte «Westen»: Europa, Nordamerika und Australien. Am deutlichsten ist die Entwicklung bei den «Western offshoots» (USA, Kanada, Australien, Neuseeland): Hier wächst das BIP pro Kopf in den 200 Jahre nach 1820 um das 20-fache, obwohl es schon 1820 das höchste war.
Und wo liegt die Schweiz? Im Zieljahr 2018 verfügt der Durchschnitts-Schweizer über ein jährliches BIP von 74’621 Dollar. Das ist fünfmal höher als in der Welt insgesamt. Und es ist gut zwanzigmal mehr, als was, was ein Sub-Sahara-Afrikaner im Schnitt zur Verfügung hat.
Aber sogar in dieser mit Abstand ärmsten Region der Welt ist das BIP in letzter Zeit gewachsen. Und es wäre den Ländern dort zu wünschen, dass sie in Zukunft wirtschaftlich mehr prosperieren könnten – wie das China in den letzten Jahrzehnten in beispielloser Weise gelungen ist. Nur so wird es möglich sein, die Armut zu bekämpfen, sauberes Wasser und Strom zu bekommen, Schulen für alle Kinder einzurichten und Umweltschäden zu bekämpfen.
Der Fortschritt schreitet trotz Rückschlägen voran
Natürlich hat das von mir hier gezeichnete Bild auch einige Kratzer. Immer wieder gab es kurzzeitig wirtschaftliche Rückschläge, die vorübergehend die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Frage gestellt haben: Etwa die Grosse Depression ab 1929, die erste Ölkrise 1973 oder die Finanzkrise ab 2007. Aber wie die erwähnten BIP-Zahlen zeigen, waren das kurzzeitige Rückschläge, die dank der Innovationskraft und dem Kooperationswillen der Menschheit mehr als ausgeglichen wurden.
200 Jahre Fortschrittsgeschichte
1820 lebte eine Milliarde Menschen in grosser Armut. Krieg, Hunger und Tod waren allgegenwärtig. Dann setzte eine beispiellose Entwicklung ein. Heute wird die Erde von acht Milliarden Menschen bevölkert. Die Wirtschaftsleistung ist um das Hundertfache gestiegen, und die Menschen leben im Schnitt so lange wie nie zuvor.
Ich gehe in einer Serie einigen zentralen Aspekten dieser Fortschrittsgeschichte nach – wie immer illustriert durch einschlägige Grafiken.
Ich denke, seit wir in grossen Mengen Kohle (ab 1800), Öl, Gas etc. abbauen und kostengünstig verfeuern, wuchs der Wohlstand.
Wenn die Energiekosten einen Wert X überschreitet, wird andernorts Wohlstand generiert.
In der Schweiz müssen wir aufpassen, diesen Kipppunkt nicht zu erreichen.
Das ist ein ausgezeichneter, inhaltsreicher und lehrreicher Artikel. Das wirtschaftliche Wachstum ist eine wesentliche und notwendige Voraussetzung für bessere Lebensbedingungen.