Der Ersatz der Atomkraftwerke durch Fotovoltaik würde eine gewaltige Stromlücke im Winter schaffen. Der Speicherbedarf, um die Lücke zu decken, wäre enorm. Dabei ist die geplante Elektrifizierung im Gebäude- und Verkehrsbereich noch nicht einmal berücksichtigt.
Originalbeitrag «Schlumpfs Grafik, Folge 22» im Nebelspalter vom 29. November 2021.
Wahrscheinlich kennen Sie Aussagen wie: «Die soeben neu eingeweihte Solaranlage liefert den Strom für so und so viele Haushalte». Solche Sätze sind zwar rein theoretisch richtig – bezogen auf eine Jahresgesamtabrechnung – , in Wirklichkeit aber sind sie irreführend: Kein Haushalt erhält in der Nacht Strom aus einer Fotovoltaik-Anlage (PV). Eine relevante Analyse volatiler Energieträger wie Wind und Sonne muss also immer zeitnah vorgehen.
Genau das habe ich mit meiner letzten Grafik gemacht: Erst mit dem Bild aus 8760 Stundenwerten des Jahres wurde erkennbar, wie viel schlechter Solarstrom gegenüber Atomstrom bei den zwei wichtigsten Kriterien der Stromerzeugung abschneidet: der Verlässlichkeit und der Bedarfsgerechtigkeit (siehe hier). Nun nehme ich den Ball wieder auf und zeige, welche konkreten Folgen sich daraus ergeben.
Die Schweiz ist keine Strominsel
Zuerst müssen wir auf der Inputseite das Schweizer Stromsystem vervollständigen. Als Richtschnur dienen die Zahlen der Schweizerischen Elektrizitätsstatistik. Input heisst hier Nettoerzeugung, und in unserem Modelljahr 2019 beträgt diese 67,8 Terawattstunden (TWh). Der grösste Teil davon kommt aus Wasserkraftwerken mit 40,6 TWh, die Kernkraftwerke tragen 25,3 TWh bei und darüber hinaus bleibt ein kleiner Rest von 1,9 TWh.
Da wir uns hier mit der Frage beschäftigen, was passiert, wenn die Atomkraftwerke durch PV-Anlagen ersetzt werden, verwende ich für die 25,3 TWh die Zahlen der hochgerechneten Solareinspeisung, wie sie in der letzten Grafik als gelbe Kurve zu sehen waren. Dazu kommen neu die Entso-e-Stundendaten für die 40,6 TWh der Wasserkraft. Die fehlenden 1.9 TWh habe ich als konstanten Bandstrom hinzugefügt.
Dieser Nettoerzeugung von 67,8 TWh steht ein Landesverbrauch von nur 61,5 TWh gegenüber. Weil aber beim Strom Erzeugung und Verbrauch immer gleich gross sein müssen, ist die Differenz zwischen diesen beiden Zahlen identisch mit dem Saldo aus Stromimport und -Export: Die Schweiz ist ja keine Strominsel, sondern sie ist über viele Leitungen mit dem umliegenden Ausland verbunden. Die Differenz von 6,3 TWh sind als Ausfuhrüberschuss in die Nachbarländer abgeflossen.
2019 war ein ideales Modelljahr
Ein so hoher Exportüberschuss ist aber ungewöhnlich, er liegt weit über dem 10-jährigen Mittel von 0,2 TWh. Hauptsächlich dafür verantwortlich ist ein maximaler Erzeugungsbeitrag aus der Wasserkraft, die vor allem im Sommer Rekordwerte erzeugte. Dazu kommen noch gute Zahlen auch aus den Atomkraftwerken und ein leicht gesunkener Verbrauch.
Wir haben mit 2019 also ein ideales Modelljahr, in dem landesintern deutlich mehr Strom erzeugt als verbraucht wurde. Das heisst aber keineswegs, dass es nicht auch in einem solchen Jahr Stromdefizite in kritischen Zeiten gegeben hat. Wie weit das hier der Fall ist, können wir mit unserem System nun für jede Stunde des Jahres berechnen: Ergibt sich aus der Differenz von «Erzeugung minus Verbrauch» ein positiver Wert, haben wir einen Überschuss, kommt ein negativer Wert heraus, bedeutet das ein Defizit. Die folgende Grafik zeigt die Resultate für das gesamte Jahr.
(Click auf Grafik vergrössert diese) Auch wenn man beachten muss, dass die Grafikauflösung für 8760 Datenpunkte auf der horizontalen Achse zu einem verschwommenen Bild führt, sieht man doch sehr eindrücklich die massiven Überschüsse im Sommer, mit Spitzenwerten bis zu 20 Gigawatt. Diese Sommerlastigkeit ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass sowohl PV-Anlagen als auch Wasserkraftwerke im Sommer mehr einspeisen. Die Defizite, die hauptsächlich im Winter anfallen, haben deutlich tiefere Spitzen. In der Jahresabrechnung ergibt sich folgendes Resultat: Die Bruttoüberschüsse (alles über der Nulllinie) summieren sich auf 22.9 TWh, die Bruttodefizite (alles unter der Nulllinie) auf 16,7 TWh.
Drei Viertel der Jahresdefizite fallen im Winter an
Für die Versorgungssicherheit eines Stromsystems sind Defizite aber viel problematischer als Überschüsse, weil wir bei diesen gänzlich von Auslandimporten abhängig sind. Bei den Überschüssen kann man entweder die Eigenproduktion drosseln (Wasser an den Turbinen vorbeilaufen lassen, PV-Anlagen abregeln, Strom für überflüssige Dinge «nutzen») oder ihn exportieren (wie die Deutschen, die im Notfall sogar dafür bezahlen).
Aus diesem Grund konzentriere ich mich hier auf die Defizite, und weil diese in der kalten Jahreszeit grösser sind, auf das Winterhalbjahr. Wie die Rechnungen zeigen, fallen drei Viertel der Jahresdefizite im Winter an, in absoluten Zahlen sind das 12,4 TWh. So gross ist also das Winterstromloch. Und die Grössenordnung wird bestätigt durch die Empa-Studie von 2019, die ich hier schon zweimal besprochen habe (siehe hier): Unter den gleichen Bedingungen kommen die Empa-Forscher dort auf 13,4 TWh.
Wie soll man sich nun vorstellen, was eine Winterlücke von 12,4 TWh bedeutet? Einmal kann man sie vergleichen mit dem Durchschnitt der Winterdefizite der letzten zehn Jahre, der 4,3 TWh beträgt. Der vollständige Ersatz der Atomkraftwerke durch PV-Anlagen würde den Stromeinfuhrbedarf im Winter also verdreifachen: Wir wären dreimal mehr auf unsere Nachbarn angewiesen. Angesichts der Entwicklung im Elektrizitätsbereich in Deutschland und Frankreich ein alarmierender Befund.
460 Linth-Limmern-Werke für die Speicherung notwendig
Andrerseits drängt sich wegen den vielen Überschüssen die Frage nach der Speicherung auf. Dabei gilt es zu unterscheiden, zwischen Kurz- und Langzeitspeicherung. Mit Kurzzeitspeicherung könnte man erreichen, dass alle Winterüberschüsse in die Kompensation der Winterdefizite gelenkt würden. Wenn wir das dereinst realisieren können, würde die Winterlücke auf 8,0 TWh sinken. Und rein theoretisch liesse sich mit optimaler saisonaler Langzeitspeicherung das ganze Winterloch decken – allerdings nur, weil 2019 eine rekordhohe Erzeugung aufweist.
Weiter können wir überlegen, was es bedeuten würde, die gesamte Winterlücke von 12,4 TWh mit heute etablierten Speichertechnologien zu überbrücken. Nehmen wir als erstes die Pumpspeicherung mit dem Transfer von Wasser zwischen zwei verschieden hohen Seen. Das leistungsmässig grösste dieser Werke ist Linth-Limmern. Für die saisonale Speicherung müsste der obere Muttsee mit Überschussstrom aus dem Sommer gefüllt und im Winter bei Bedarf wieder geleert werden. Wenn wir von den 0.033 TWh, die so erzeugt werden können, 20 Prozent für das Pumpen und Turbinieren abziehen, würde es 460 Linth-Limmern-Werke brauchen, um das Winterloch zu stopfen – bei Kosten pro Werk von 2,1 Milliarden Franken.
Neue Speicherseen bauen oder Staumauern erhöhen
Dies ist natürlich ein völlig absurdes Beispiel, das ich nur gebracht habe, weil immer wieder behauptet wird, mit Pumpspeicherung könne man das Sommer-Winter-Problem lösen: Nein, so geht es nicht. Aber wir haben ja auch viele Speicherseen, die auf natürliche Weise gefüllt werden. Das grösste dieser Systeme ist Grande Dixence mit 4 Kraftwerken im Rhonetal. Hier liegt die maximale Speicherkapazität bei etwa 1,9 TWh. Mit entsprechendem Management wäre eine solche Grössenordnung im Winter also abrufbar. Das bringt aber auch nichts, denn das sind ja keine zusätzlichen Kapazitäten: Schon heute wird damit der natürliche Wasserzufluss, der im Sommer viel grösser ist, zum Winter hin geglättet. Um die Winterlücke zu verkleinern müssten wir neue Speicherseen bauen, oder bestehende Staumauern erhöhen.
Und schliesslich noch ein Wort zur Power-to-Gas-to-Power-Speicherung, also dem Prozess Elektrolyse, Wasserstoffspeicherung und Rückverwandlung in Strom durch ein Gas-und-Dampf-Kombikraftwerk, mit dem tatsächlich Saisonspeicherung möglich ist. Die Verluste summieren sich dabei aber auf sage und schreibe über 70 Prozent. So ist es kein Wunder, dass in den «Energieperspektiven2050+» des Bundes dieser Weg keine Rolle spielt. Der Physiker Simon Aegerter hat in seinem Buch «Das Wachstum der Grenzen» die Kosten für eine Speicherung von 3 TWh auf ungefähr 100 Milliarden Franken geschätzt – Also, man rechne.
Verhindern, dass wir zu viele Gaskraftwerke bauen müssen
Was also sollen wir tun, um wegen einer drohenden Verdreifachung unserer Winterstromlücke nicht das hohe Risiko einer Importabhängigkeit von Frankreich und Deutschland einzugehen? Wir sollten das Undenkbare denken: Neben einem moderaten Ausbau der Solaranlagen sollten wir die Kernenergie-Option offenhalten. Wir sollten dafür sorgen, dass die noch verbleibenden Atomkraftwerke so lange wie möglich sicher laufen können, damit wir genügend Zeit haben, neue kleine modulare Reaktoren der 4. Generation dort zu bestellen, wo sie am sichersten und günstigsten sind. Damit könnten wir hoffentlich verhindern, dass wir allzu viele Gaskraftwerke bauen müssen.
Mehrteilige Serie über Atomkraft
In der Schweiz sollen Atomkraftwerke durch Fotovoltaik-Anlagen ersetzt werden. Daraus ergeben sich zahlreiche Probleme für die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit beim Strom – insbesondere im Winter. Um nicht in einen Blackout zu laufen, müssen die Vor- und Nachteile von Atom und Solar gegeneinander abgewogen werden. In einer Reihe von Beiträgen im „Nebelspalter“ gehe ich zentralen Aspekten von Atomstrom nach, wie Speicherung, Sicherheit, Strahlung, Abfälle und Kosten – und illustriere diese wie immer mit einer einschlägigen Grafik.
Teil 1 der Serie „Atomstrom ist zuverlässig und bedarfsgerecht„
Eine sehr sauber recherchierte und verständlich erklärte Analyse der aktuellen Stromversorgungssicherheitsproblematik. Hoffen wir, dass die sich mehrenden Warnstimmen auch von den verantwortlichen Politikern zur Kenntnis genommen und daraus die dringend nötigen Massnahmen abgeleitet werden.
Es ist ja das ewig gleiche Spiel – aber es muss halt doch betrieben werden: Falsch ist schon mal die Aussage, «Kein Haushalt erhält in der Nacht Strom aus einer Fotovoltaik-Anlage (PV).» Wie stets ist Schlumpf als Kritiker der Solarenergie nicht auf dem Laufenden – denn unterdessen werden immer mehr Solaranlagen mit Batterie-Speichern ausgerüstet. Es ist also sehr wohl möglich, in den meisten Nächten des Jahres Solarstrom zu verbrauchen. Selbst andere Kritiker der Solarenergie und der Erneuerbaren gestehen heute zu, dass die Umlagerung vom Tag auf die Nacht kein Problem mehr darstellt – ausser für den Ewig-Gestrigen Solar-Beobachter Schlumpf. Er hat wohl, wie ich vermute, auch schon lange keine Solaranlage mehr in der Realität gesehen – oder irre ich?
Sodann gilt gemäss Schlumpf: Überlegenheit der Atomenergie bezüglich «der Verlässlichkeit und der Bedarfsgerechtigkeit. «Nun nehme ich den Ball wieder auf und zeige, welche konkreten Folgen sich daraus ergeben.» Ich meinerseits habe andernorts die Schwächen dieser Argumentation ausführlich aufgezeigt > siehe meine Zuschrift hier: https://www.schlumpf-argumente.ch/atomstrom-ist-zuverlaessig-und-bedarfsgerecht/
Und dann dies: Stromüberschuss! Das passt nun so gar nicht in die Argumentation und wird schwurbelnd weggeredet (-geschrieben). Die Überschüsse bedeuten ja nur, dass die CH eben wirklich eingebunden ist – und aus diesem Bündnis auch nicht so schnell ausscheidet, auch nicht, wenn die EU ihren Stromexport eingrenzen sollte (immerhin sind auch nach 2025 30% erlaubt). Vieles liesse sich noch anfügen – hier nur dies: Informieren Sie sich doch bitte mal bei den Spezialisten der Solarenergie – Sie sind noch lange keiner!
Sehr geehrter Herr Rehsche
Würden Sie mir bitte einmal vorrechnen, was die Kosten NICHT der Tag-Nacht-Speicherung einer Solaranlage ist (mit CHF 10,000/10KWH nutzbarer Speicher), sondern der nötige Speicher für den Sommer-Winter-Transfer (i.e. der Überproduktion im Sommer relativ zur sehr geringen Produktion im Winter) und dazu noch 3 oder 5 Tage Regen/Schneefall einrechnen mit nahezu Null Solarproduktion? Basis sind die von einfachen Gemütern nutzbare Solaranlagen auf dem eigenen Dach – mit anderen Worten im Unterland. Besten Dank
Endlich eine realistische, sachliche, kompetente, nicht ideologische und verständliche Beurteilung der heutigen und künftigen winterlichen Elektrizitäts-Versorgung in der Schweiz. Der Autor dramatisiert übrigens absolut nicht. Seine Berechnungen beruhen auf optimistischen Voraussetzungen: optimale Sommerproduktion im Jahre 2019 und leicht reduzierter Verbrauch im Jahre 2019. Zudem hat er den künftigen Mehrverbrauch an Elektrizität (Wärmepumpen + Verkehr) noch nicht miteinbezogen. Die Lage der Versorgung ist daher sehr ernst. Besonders ein winterlicher Blackout lauert hinter der Ecke. Wer glaubt und/oder zu glauben gibt, dass man die heutige Kernenergieproduktion leicht, rasch und billig mittels Fotovoltaik ersetzen kann, der kann nicht rechnen oder der sagt bewusst nicht die Wahrheit. Es braucht möglichst rasch eine landesweite, offene, kompetente, nicht ideologische, ehrliche und verständliche Diskussion unter Berücksichtigung aller wesentlichen Aspekte: Zeit, Landesversorgung, Machbarkeit, Akzeptanz, Kosten, Sicherheit, Unabhängigkeit, Umwelt, Nachhaltigkeit, Netzstabilität, Reserve, Beziehung CH-EU, Wissen, Forschung, Technik, Entwicklung, usw.