Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 100“ im Online-Nebelspalter vom 12. Februar 2024 zu lesen.
Im Nebelspalter-Podcast „Bern einfach“ spricht Dominik Feusi mit mir über meine hunderste Kolumne und andere Themen (siehe hier).
Diese hunderste Kolumne ist anders als die früheren. Ich schreibe hier einmal ganz persönlich – als pensionierter Musiker und Musikprofessor im Alter von 76 Jahren, der von sich selber sagt, dass er ein glücklicher Mensch sei.
Ist eine solche Aussage aber nicht verrückt in einer Zeit, wo Kriege und Terrorismus wieder aufflammen, Klimaängste eskalieren, noch immer Millionen Menschen hungern und einzelne soziale Gruppen sich zunehmend radikal gegen andere abgrenzen? Zugegeben, in einigen Bereichen hat sich die Lage in letzter Zeit verschlechtert. Wenn ich aber mein Leben mit demjenigen vergangener Generationen vergleiche, bleibt mir nur eine Schlussfolgerung: Wir leben in der besten aller bisherigen Welten.
Damit meine ich nicht, dass an der heutigen Welt nichts mehr verbessert werden könnte (viele missverstehen den Satz in dieser Hinsicht). Ich meine nur, was der Satz direkt sagt: Verglichen mit früheren Welten leben wir in der Summe aller wichtigen Lebensbedingungen heute besser denn je. Gerade der Umstand aber, dass ich mit früheren Zeiten überhaupt vergleichen kann, ist erst durch eine Errungenschaft möglich geworden, die uns noch nicht lange zur Verfügung steht.
Das ganze Wissen der Menschheit zu meiner Verfügung
Wenn ich nämlich mit Nachdenken und Recherchieren über ein bestimmtes Thema beginne, steht mir über meinen Computer und das Internet mehr oder weniger das ganze Wissen der Menschheit zur Verfügung. Und dieses Wissen wird von Tag zu Tag grösser und umfasst immer mehr auch ein präziseres historisches Verständnis vergangener Zeiten. Dabei kann ich all diese Wissensquellen anzapfen, ohne mein Wohnhaus verlassen zu müssen: Umfassender und bequemer kann ich mir den Zugang zu Wissen nicht vorstellen.
Mir ist es mit den heutigen Kommunikationsmitteln möglich, eigene Aussagen, die mir aufgrund meiner Quellen plausibel erscheinen, einer kritischen Diskussion auszusetzen.
Dabei ist es nicht nötig, dass ich eine Ahnung von den technischen Details eines Computers oder des Internets habe: Andere Menschen auf dieser Welt haben diese Werkzeuge bereits erfunden und nutzbar gemacht – ich kann einfach davon profitieren. Und zwar im gleichen Umfang, wie selbst der reichste Mann der Welt: Computer und Internet sind dank enormen Preisreduktionen heute für ganz viele Menschen erschwinglich geworden.
Vergleichen Sie das jetzt kurz mit der Situation früherer Gelehrter: Diese waren beim Erwerb von Wissen auf Bücher, Gespräche und Briefe angewiesen. Bücher (wenn es sie überhaupt gab) waren aber lange Zeit nur lokal beschränkt zugänglich, und für Informationen aus Gesprächen oder Briefen musste man die entsprechenden Spezialisten kennen. Solche Möglichkeiten standen aber nur den wenigsten Menschen zur Verfügung. Das (naturwissenschaftliche) Wissen war also früher enorm viel beschränkter und vor allem elitärer.
Auch Kunst wird demokratisiert
Zudem ist es mir mit den heutigen Kommunikationsmitteln möglich, eigene Aussagen, die mir aufgrund meiner Quellen plausibel erscheinen, einer kritischen Diskussion auszusetzen. Indem ich Quellen mit den entsprechenden Links angebe, kann sich jedermann selber damit beschäftigen und seine Resultate in einem Kommentar mitteilen. Auf diese Weise habe ich auch schon von meinen Leserinnen und Lesern profitiert.
Vor einigen Wochen habe ich ein weiteres «Wunder» entdeckt: Auf meinem Handy habe ich ein Abonnement gekauft, mit dem ich für wenige Franken pro Monat die gesamte klassische Musikliteratur vom 12. bis ins 20. Jahrhundert hören kann. Und dies für jede einzelne Komposition in einer riesigen Bandbreite an Interpretationen. Mit dieser App kann ich also fast in alle Aufnahmestudios der Welt hineinhören, in denen je klassische Tonaufnahmen gemacht wurden. Und ich kann dies erst noch genau dann tun, wann ich will und mit der von mir gewünschten optimalen Tonqualität: Damit wird Kunst demokratisiert.
Statt meine Zeit damit zu verbringen, wie ich meine Millionen gewinnbringend anlegen kann, widme ich mich viel lieber Woche für Woche den Recherchen für ein neues Thema meiner Grafik-Kolumne.
Selbstverständlich kann ich via Internet auch fast alles in Ruhe und mit vielen Vergleichsmöglichkeiten einkaufen – Zug- und Busbillette auf dem Handy eingeschlossen. Auch der notwendige Zahlungsprozess wird dabei immer einfacher. Zudem kann ich meiner Veranlagung als Spieler ganz neu frönen: Immer wieder spiele ich in der Nacht Schach gegen Kontrahenten aus aller Welt, oder ich beteilige mich an Rummikub-Runden, oder ich jasse, oder ich mache Sudoku.
Ich habe mehr als genug von allem
Klar, all diese neuen Verlockungen, die durch die digitale Vernetzung möglich geworden sind, können auch zu Problemen wegen Sucht oder sozialer Isolation führen. Solche Probleme kann man aber angehen: Wir müssen lernen, mit neuen Medien so umzugehen, dass sie letztlich nutzbringend sind. Zugegeben, da habe ich es in meinem Alter wahrscheinlich leichter, weil ich nicht unter Arbeitszwängen stehe und niemandem etwas «beweisen» muss. Das ist vielleicht mein grösstes Privileg: dass ich so viel Zeit habe für mich (dank den Sozialversicherungen) und dass ich finanziell und politisch unabhängig bin.
So kann ich – wenn ich will – auch viele Stunden pro Tag Klavier spielen und üben. Das ist für mich eine spannende Herausforderung: Wie weit kann ich meine pianistischen Fertigkeiten (mental und physisch) noch perfektionieren? Und besser als früher gelingt es mir, die einmalige Kombination von Verstand, Emotion und Physis, die mit dem Musikmachen verbunden ist, zu schätzen und zu geniessen: Man ist gefordert, man kann direkt gestalten und man bleibt «wach».
Schliesslich bin ich dankbar dafür, in einer Welt leben zu können, in der die schwere Lungenoperation meiner Frau vom gleichen Spezialisten ausgeführt wurde, der auch den reichsten Schweizer operiert hätte. Und da mir weder exquisite Kleider, teure Autos, luxuriöse Ferien oder wertvollen Schmuck viel bedeuten, habe ich keine Veranlassung, reichere Menschen zu beneiden (was offensichtlich viele tun): Ich habe mehr als genug von allem.
Und statt meine Zeit damit zu verbringen, wie ich meine Millionen gewinnbringend anlegen kann, widme ich mich viel lieber Woche für Woche den Recherchen für ein neues Thema meiner Grafik-Kolumne im «Nebelspalter» und übe für das nächste Hauskonzert bei uns.
Wir hören und lesen täglich von Panik, Lügen, Erpressung, Gewalt, Pessimismus, Krieg und Weltuntergang. Der positive und optimistische Beitrag von Prof. Martin Schlumpf gibt Mut und Lebenssinn. Vielen Dank!
Durch Deinen aufmunternden Kommentar zum glücklich Sein ist mir bewusst geworden, dass Dankbarkeit und Optimismus unser Leben immens bereichern können ohne selbst reich sein zu müssen.
Neben Mathematik, Musik und Physik hast Du auch philosophisch Einiges „auf der Platte“. Die passende Musik zu meiner momentanen Stimmung wäre wohl „La Traviata“.
Fazit: Freude herrscht! 🇨🇭
Das kann ich unterschreiben, mir geht es genau so!