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Warum wir im Winter Strom importieren müssen

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Seit etwa zwanzig Jahren importiert die Schweiz im Winterhalbjahr Strom. Früher war das nicht der Fall: Wo liegen die Gründe für diese Verschlechterung?

Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 40“ im Online-Nebelspalter vom 25. April 2022 zu lesen.

Das Schweizer Elektrizitätssystem beruht seit vielen Jahrzehnten auf den Pfeilern Wasserkraft und Kernkraft, und ermöglicht so eine zuverlässige, kostengünstige und klimafreundliche Stromversorgung. Bezüglich Zuverlässigkeit stellt die Wasserkraft aber ein Problem dar, weil aus ihr im Winter weniger Strom erzeugt werden kann, als im Sommer, und weil das dem Stromverbrauch entgegenläuft. Mit dem Bau vieler Staumauern, die eine Wasserspeicherung in Stauseen ermöglichen, haben wir diese Herausforderung zwar zum Teil gemeistert: Denn damit kann der Winterstromanteil aus Wasserkraftwerken von durchschnittlich 26 Prozent bei natürlichen Zuflüssen auf 43 Prozent erhöht werden.

Aber auch so ist eine zu hundert Prozent gesicherte Stromversorgung nicht gewährleistet. Kritisch wird es immer gegen Ende Winter: Reicht die Speicherkapazität der Stauseen aus, um bis zur Schneeschmelze durchhalten zu können? Wir müssen diese Zeit also speziell im Auge behalten, wenn wir die Zuverlässigkeit unseres Elektrizitätssystems analysieren wollen. Und damit wir die saisonalen Schwankungen abbilden können, müssen wir auf Monatsdaten zurückgreifen. Die einzige Datenbasis, die dieser Anforderung gerecht wird und auch über einen längeren Zeitraum Auskunft gibt, findet sich in einer vom Bundesamt für Energie herausgegebenen Zeitreihe «Schweizerische Elektrizitätsbilanz – Monatswerte» (siehe hier). Alle Grafiken dieses Beitrags beruhen auf Zahlen dieses Dokuments.

Nun müssen wir uns noch kurz vergegenwärtigen, wie unser Stromsystem grundsätzlich funktioniert. Auf der einen Seite steht die Landeserzeugung, in der die gesamte inländische Stromproduktion erfasst ist. Nach Abzug des Verbrauchs für die Speicherpumpen erhält man die Nettoerzeugung, der auf der anderen Seite der Landesverbrauch gegenüber steht. Zudem ist die Schweiz in ständigem Stromaustausch mit den benachbarten Ländern. Weil aber bei der Elektrizität Input und Output jederzeit identisch sein müssen, entspricht der Saldo aus Stromimport und -export genau der Differenz zwischen Landesverbrauch und Nettoerzeugung.

Das monatliche Wechselspiel zwischen Verbrauch, Erzeugung aus Wasser- und Kernkraft sowie dem Import/Export-Saldo zeigt die folgende Grafik für die Zeitperiode von 1990 bis 2021.

Der Stromverbrauch ist seit etwa 15 Jahren stabil

Bei allen vier Parametern sind die Monatswerte als Linie zu einer Kurve verbunden, und alle Zahlenwerte gelten absolut in Gigawattstunden. Minuszahlen beim Import/Export-Saldo bedeuten Ausfuhrüberschüsse.

Betrachten wir zuerst die schwarz-gestrichelte Landesverbrauchskurve ganz oben. Sie zeigt einerseits die typischen saisonalen Jahresschwankungen mit einem Mehrverbrauch im Winter. Und andrerseits erkennt man einen kontinuierlichen Anstieg des Jahresgesamtverbrauchs bis etwa ins Jahr 2006 – seither bewegen sich unsere Verbrauchsansprüche auf einem konstanten Niveau.

Der unstetige Wasserstrom kontrastiert stark mit dem beständigen Atomstrom

Und wie sieht es auf der Inputseite aus? Auf einen Blick wird klar, dass die Wasserkraftwerke (blau) mehr Strom liefern als die Kernkraftwerke (hellgrün). Und bei beiden Produktionsträgern zeigen sich wie beim Verbrauch typische Jahresprofile, die sich allerdings stark voneinander unterscheiden. Vor allem fällt auf, wie unstetig der Input aus der Wasserkraft im Vergleich mit der fast gänzlich regelmässigen Erzeugung aus den Kernkraftwerken ist. Und zwar in Bezug auf Jahreserträge ebenso wie auf die saisonalen Schwankungen bezogen: Hier zeigt sich deutlich der grosse Unterschied zwischen naturabhängiger Wasserkraft und durch den Menschen gesteuerte Kernkraft. 

Die Kernkraftwerke sind die ideale Ergänzung zur Wasserkraft

Entscheidend ist aber weiter das Verhältnis zwischen dem Verbrauchsverlauf und den Kurven der beiden Erzeugungsträger, und auch da verhalten sich diese unterschiedlich. Das Wasserstromprofil widerspricht den Verbrauchsanforderungen: Die beiden Kurven bewegen sich im saisonalen Wechsel ständig gegeneinander. Die hydrologische Erzeugung ist im Winter also für eine grössere Stromlücke verantwortlich, während sie im Hochsommer den ganzen Bedarf fast allein abdeckt. Im Gegensatz dazu folgen die Kernkraftwerke – zumindest tendenziell – der Verbrauchskurve. Insbesondere kompensieren sie weitgehend die Mängel des Wasserstroms. Im Winter füllen sie die Stromlücke, und im Sommer fahren sie ihre Produktion wegen dem notwendigen Brennstoffwechsel und allgemeiner Revisionen herunter – sie sind also die ideale Ergänzung zur Wasserkraft.

Stromimporte kompensieren die Wasserstromlücken

Wie weit der Verbrauch damit aber wirklich abgedeckt werden kann, zeigt sich erst beim vierten Parameter, dem rot eingezeichneten Import/Export-Saldo. Hier sieht man, dass bis etwa ins Jahr 2002 nur sehr selten und nur sehr kleine Importüberschüsse vorkamen (Werte über Null). Danach aber werden sie im Winter zur Regel und sie wachsen an. Zudem läuft diese rote Kurve auch gegenläufig zur blauen Hydrokurve, was bedeutet, dass die Volatilität des Wasserstroms durch Importe und Exporte kompensiert werden muss.

Weil für die Versorgungssicherheit aber allein die Wintersituation entscheidend ist, schauen wir uns in der nächsten Grafik noch die Winterhalbjahreszahlen für die Wasser- und Kernkraft, sowie den Import/Export-Saldo in der gleichen Zeitperiode an.

Auf der Erzeugungsseite zeigen diese Winter-Halbjahreszahlen erstens, dass der Stromertrag der Kernkraftwerke fast gleich hoch ist, wie derjenige aus der Wasserkraft. Und zweitens bewegt sich der Kernkraft-Input ziemlich regelmässig um die Marke von gut 13’000 Gigawattstunden, während der Hydro-Input starken Schwankungen zwischen 12’000 und 18’000 Gigawattstunden unterliegt. Das Entscheidende ist aber, dass seit der Jahrtausendwende in jedem Winterhalbjahr ein Importüberschuss resultiert hat (rote Balken über Null), während in den Jahren davor die Importe viel kleiner und sogar auch Exportüberschüsse zu verzeichnen waren.

Kernkraftwerke als Versicherung im Winterhalbjahr

Wir können also folgendes Fazit ziehen: Dem bis etwa 2006 steigenden Landesverbrauch steht auf der Erzeugungsseite einerseits kein entsprechender Ausbau gegenüber, der das aufgehende Winterstromloch gestopft hätte. Wäre eines der bis 2011 geplanten Kernkraftwerke neu gebaut worden, hätten wir heute dieses Problem nicht. Und andrerseits wird das Ausmass des Winterstrommangels hauptsächlich durch die Volatilität des Wasserstroms bestimmt. Der zuverlässige Bandstrom aus den Kernkraftwerken wirkt dabei wie eine Art von Versicherung, die das schlimmste verhindert.

Die Jahre 2005 bis 2015 verdeutlichen das: Im Winter 2005/06 sinkt der Wasserstromertrag auf das Minimum der ganzen Periode, was zur Folge hat, dass der Importüberschuss auf das damalige Rekordhoch von knapp 7000 Gigawattstunden ansteigt. Im Gegensatz dazu führen die Wasserhochstände von 2013 bis 2015 fast zum Verschwinden des Import-Überschussbedarfs. Und das alles bei praktisch unveränderter Kernkraft-Einspeisung.

Katastrophenwinter 2016/17 wegen Frostperiode und Ausfall Kernkraftwerke

Aber diese Absicherung durch die Kernkraftwerke hat auch seinen Preis. Dies zeigen die Jahre 2016 bis 2018. Der bisher grösste Import-Überschussbedarf im Winter 2016/17 von knapp 10’000 Gigawattstunden (schwarzer Pfeil oben) hat seine Ursache unter anderem in der temporären Stilllegung eines Grossteils der Kernkraftwerke – unglücklicherweise verbunden mit einem unterdurchschnittlichen Wasserertrag. Einen genaueren Einblick in den Verlauf dieses «Katastrophenwinters» bieten die Monatswerte der ersten Grafik.

Zuerst sieht man dort, dass die Verbrauchskurve im Januar 2016 ein Allzeithoch von 6560 Gigawattstunden zeigt. Das war das Resultat einer länger dauernden Frostperiode im Januar 2016. Weil aber auch ein Teil des Kernkraftstroms ausfiel – was im Winter noch nie zuvor geschehen war – zeigt die rote Importüberschuss-Kurve ab November 2016 absolute Spitzenwerte, die im Februar 2017 im monatlichen Allzeithoch von über 2000 Gigawattstunden kulminiert haben. Dies wiederum war dem Umstand geschuldet, dass die Speicherseen schon im Februar praktisch bereits leer waren.

Wir müssen den Kernkraftwerken Sorge tragen

Zum grossen Glück konnten wir in diesem Winter 2016/17 genügend Strom importieren (es war ein paar Mal auf Messers Schneide). Weil die Europäische Union aber beschlossen hat, in Zukunft den Stromexport in Drittländer wie die Schweiz stark zu beschränken, müssen wir umso mehr alles daran setzen, um eine solche Notsituation zu vermeiden. Weil wir aber keinen Einfluss auf einen wetterbedingten Mehrverbrauch noch auf den Input aus der Wasserkraft haben, bleibt uns im technischen Bereich einzig und allein das möglichst gute und vorbeugende Management unserer Kernkraftwerke: Wir sollten alles daran setzen, dass diese möglichst lange zuverlässigen Winterstrom liefern können.

Leider haben wir vor gut einem Jahr mit der Stilllegung von Mühleberg das genaue Gegenteil gemacht. In der zweiten Grafik ist das beim letzten sinkenden hellgrünen Balken bereits sichtbar. Absurderweise wird das von Links-Grün gefeiert.

1 Kommentar zu “Warum wir im Winter Strom importieren müssen

  1. Arturo Romer
    Arturo Romer

    Herr Prof. Martin Schlumpf hat hier einen sehr sachlichen und informationsreichen Artikel geschrieben. Er zeigt die grosse Schwäche und das Risiko der heutigen winterlichen Elektrizitätsversorgung. Wir werden im Winter nicht mehr lange Elektrizität importieren können. Mit dem brutalen und unsinnigen Krieg in der Ukraine wird sich die westliche Versorgungslage noch verschlimmern. Wann wird der Westen endlich verstehen, dass in wenigen Jahren sichere und preislich interessante Kernreaktoren der Generation IV auf dem Markt erhältlich sein werden. Es wird sich um Reaktoren handeln, welche auch das Problem der radioaktiven Abfälle elegant und effizient lösen werden (siehe z.B. Thorium-Reaktor mit Beschleuniger). China macht schon die ersten Versuche und wird der Welt beweisen, dass es möglich ist. Die Zukunft braucht erneuerbare Energien und moderne Kernenergie.

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