Die Gletscher-Initiative ist der grösste Etikettenschwindel der schweizerischen Abstimmungsgeschichte. Den Leuten wird suggeriert, wir Schweizer hätten es in der Hand, das Abschmelzen unserer Alpengletscher zu verhindern. Denn wer liest schon den Initiativtext? «Netto null CO2» ist zum neuen grünen Glaubensbekenntnis geworden, dem nun alle Parteien mit Ausnahme der SVP huldigen. Auch der Bundesrat hat nachgezogen. Die Differenzen liegen nur noch beim Zieltermin: 2030 (Klimajugend), 2040 (BDP) oder 2050 (Bundesrat). Der mehr oder weniger rasche Ausstieg aus der fossilen Energie ist beschlossene Sache.
Professor Thomas Stocker (Universität Bern) zeigte in einem Referat an einer NZZ-Konferenz kürzlich, was nötig wäre, um das 1,5-Grad-Celsius-Ziel zu erreichen, das vom Weltklimarat (IPCC) vorgegeben und von der Uno-Staatengemeinschaft zumindest deklamatorisch mitgetragen wird. Das noch verbleibende CO2-Budget müsste gemäss IPCC in den nächsten dreizehn Jahren auf null gesenkt werden, was einer jährlichen Reduktionsrate von 7,5 Prozent entspricht. Unser CO2-Ausstoss, der immer noch ungebrochen weiterwächst, müsste also ab sofort dramatisch gebremst werden!
Doch was geschieht derweil effektiv in der grossen, weiten Welt? Die bisherige internationale Klimapolitik hat kaum Wirkung gezeigt. Nach der BP Statistical Review 2019 ist der Gesamtenergieverbrauch der Welt von 1992 bis 2018 um 69 Prozent angestiegen. Der fossile Anteil blieb längere Zeit bei 87 Prozent konstant. Erst seit 2012 fiel er langsam auf 85 Prozent. Noch immer werden also mehr als vier Fünftel unseres Energiebedarfs mit fossilen Quellen gedeckt. Auch der jährliche Mehrverbrauch ist zum überwiegenden Teil fossil.
Und doch gibt es erste Anzeichen einer noch schwachen Wende: Seit 1992 ist der Anteil Öl am Gesamtenergiemix um knapp 7 Prozent gesunken und durch rund 4 Prozent erneuerbare Energien und 3 Prozent Gas ersetzt worden. Gleichwohl darf man die Proportionen nicht aus den Augen verlieren. Ungeachtet fantastischer Ausbauraten von Wind- und Solarenergie in den letzten Jahren machen sämtliche erneuerbaren Energien (ohne Wasserkraft) erst 4 Prozent des Gesamtverbrauchs aus.
Zudem hat der Zuwachs an CO2-Emissionen zum überwiegenden Teil im Raum Asien/Pazifik stattgefunden, zu mehr als der Hälfte in China. Alle Reduktionen, die Europa realisiert hat, sind durch China und Indien mehrfach wettgemacht worden. Und die Gewichte werden sich weiter verlagern: Indien wird China in absehbarer Zukunft als energiehungrigstes Land überholen, getrieben von weiterem Bevölkerungswachstum und einem noch bescheidenen Pro-Kopf-Energieverbrauch.
All diese energiepolitischen Veränderungen hat die Internationale Energieagentur (IEA) ihrem Outlook 2019 zugrundegelegt. Im Szenario «New Policies» geht sie davon aus, dass alle Länder bis 2040 ihre Versprechungen, die sie im Pariser Klimaabkommen abgegeben haben, vollständig erfüllen werden. Das Resultat ist ernüchternd: Der Energieverbrauch steigt um weitere 25 Prozent, und auch der CO2-Ausstoss nimmt auf einem leichten Aufwärtspfad weiter zu. Eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit tut sich auf: Laut IPCC sollten wir den CO2-Ausstoss jährlich um über 7 Prozent senken, doch die Prognosen aufgrund optimistischer Annahmen zeigen ein weiteres Wachstum. Von netto null ist die Welt im Jahr 2040 weiter entfernt als heute.
«Wenn wir alle zusammen unseren Lebensstil ändern, können wir den Klimawandel stoppen.» Das sagte Selina Walgis, Nationalratskandidatin von den Jungen Grünen, im Gespräch mit der NZZ. Diesem Satz werden viele Leute heutzutage sicher zustimmen, weil die Zustimmung nichts kostet, aber ein gutes Gefühl vermittelt. Doch wie möchte die junge grüne Hoffnungsträgerin drei Vierteln der Menschheit die Änderung des Lebensstils schmackhaft machen? Durch gutes Zureden oder doch eher durch eine autoritäre Weltregierung? Man kann nur hoffen, dass sich auch die Wahlberechtigten solche Fragen stellen, bevor sie den Wahlzettel ausfüllen.
Dieser Text ist in der Weltwoche Nr. 36 vom 5. September 2019 erschienen; Co-Autor ist Hans Rentsch
Mit zusätzlichen Grafiken ist er auch auf Cool-Down-Schweiz erschienen; ebenso auf dem Carnot-Cournot-Netzwerk
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