Energie Klima Politik

Mit Kernkraftwerken wird die Energiewende billiger

Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 60“ im Online-Nebelspalter vom 28. November 2022 zu lesen.

Vor kurzem hat die Nuclear Energy Agency, NEA, – eine Unterorganisation der OECD – eine grosse Studie veröffentlicht, die der Frage nachgeht, auf welchem Weg die Schweiz ihr Ziel von Netto-Null-CO2 im Jahr 2050 mit den geringsten Kosten erreichen kann (siehe hier). Im Gegensatz zu vielen anderen Studien über unsere Energiewende zieht die Kernenergie-Agentur dabei die Option Kernenergie in ihre Analysen mit ein. Somit erfüllt sie das Gebot der Technologieoffenheit, das für eine objektive Abwägung unentbehrlich ist.

Was wichtig ist:

– Am günstigsten wird die Energiewende mit einer Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt bis 2050.
– Jede Einschränkung des Stromhandels mit dem Ausland lässt die Kosten steigen.
– Am teuersten wird es mit einem Ausbau allein mit Solar und Wind.

Verfasst wurde die Studie mit dem Titel «Achieving Net Zero Carbon Emissions in Switzerland in 2050» («Erreichung des Netto-Null-Ziels bei den Kohlendioxid-Emissionen in der Schweiz bis 2050») von einem Team um Jan Horst Keppler, Chefökonom der NEA. Die Autoren streichen zuerst heraus, wie optimal die Schweiz im Elektrizitätsbereich aufgestellt ist: Sie hat den kleinsten CO2-Fussabdruck aller OECD-Länder, sie hat mit ihrer Wasserkraft ein grosses Potenzial an flexibel einsetzbaren Stromerzeugern, und sie ist stark mit ihren vier grossen Nachbarländern vernetzt. Damit hat die Schweiz beste Voraussetzungen, um das im Pariser Klimaabkommen geforderte Netto-Null-CO2-Ziel bis 2050 zu erfüllen.

Kernkraftwerke plus Erneuerbare versus nur Erneuerbare

Die Studie nimmt an, dass unser heute bestehender Mix aus Wasserkraftwerken und einem kleinen Teil thermischer Erzeugung (wie zum Beispiel Abfallverbrennung) unverändert bleibt. Um die voraussichtliche Verbrauchssteigerung von heute 58 auf 85 Terawattstunden Strom bis ins Jahr 2050 stemmen zu können, untersuchen die Autoren im wesentlichen drei Szenarien: Das erste mit einer Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt bis ins Jahr 2050, das zweite mit einem ausschliesslichen Zubau von Fotovoltaik und Wind, sowie das dritte mit dem Bau zweier neuer Kernkraftwerke der Generation III+ vom Typ EPR.

Einen besonderen Wert erhält die Studie dadurch, dass sie all diese Szenarien jeweils auch unter verschiedenen Bedingungen der Ausland-Vernetzung untersucht: einmal mit vollen Import-Export-Möglichkeiten, dann mit nur 50 Prozent Aussenhandel und schliesslich in völliger Autarkie.

In der folgenden Grafik habe ich die benötigte installierte Leistung pro Energieträger für alle drei Szenarien dargestellt. In jedem Szenario zeigt der linke Balken die benötigte Kapazität bei unbeschränktem Aussenhandel und der rechte Balken die Situation bei vollständiger Abschottung vom Ausland.

Alle Szenarien gehen davon aus, dass die heute dominierenden Wasserkraft und die geringe thermische Produktion unverändert bestehen bleiben. Da die Kernenergie zuverlässigen Bandstrom liefert, ist ihre Kapazität unabhängig vom Aussenhandel: Im Szenario 1 «Laufzeitverlängerung» (LZV) beträgt sie 2.2 Gigawatt, im Szenario 3 «2 neue Kernkraftwerke» (2NK) sind es 3.2 Gigawatt.

Ohne Atomstrom wären bis zu 35 Gigawatt Erneuerbare nötig

Der Anteil der Erneuerbaren – jeweils viel Solar und etwas Wind – schliesst unter den wechselnden Voraussetzungen der Szenarien die Lücke zwischen der Erzeugung von Wasser- und Atomstrom (sofern vorhanden) und dem Bedarf von 85 Terawattstunden pro Jahr. Bei hundert Prozent Aussenhandel wären das im LZV-Szenario 12 Gigawatt aus Erneuerbaren (gelb und grün). Im «Nur Erneuerbare»-Szenario (NEB), wenn Gösgen und Leibstadt abgestellt wären, müssten bei idealen Importbedingungen aber fast 20 Gigawatt aus PV- und Windanlagen vorhanden sein – das ist gut 6-mal so viel wie heute.

Weil im 2NK-Szenario die grösste Nuklearkapazität installiert ist, käme man dort im Idealfall sogar mit nur 9 Gigawatt erneuerbare Quellen aus. Wie aber die rechten Balken bei allen Szenarien zeigen, würde eine geforderte oder erzwungene Autarkie einen wesentlich grösseren Ausbau der PV- und Windanlagen erfordern, insbesondere dann, wenn kein Atomstrom fliesst: im NEB-Szenario wären so über 35 Gigawatt erforderlich – das ist 11-mal mehr als heute.

Umfassende Modellierung der Kostenstruktur

Welche Auswirkungen haben diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen aber auf die Kosten? Um diese Frage beantworten zu können, haben die Wissenschaftler der NEA ein eigenes Modell entwickelt, das die Systemkosten verschiedener Energieträger in möglichst vollständiger Weise repräsentiert. Dieses NEA POSY-Modell geht von den bekannten «levelised costs of generating electricity», LCOE, aus und erweitert diese durch sogenannte Profilkosten, Ausgleichskosten, Netzkosten und Verbindungskosten.

Damit wird sichergestellt, dass sämtliche Folgekosten der neuen Erneuerbaren, die aus der Notwendigkeit von Backups, von Speichern und von verschiedenen Netzanpassungen resultieren, mitberücksichtigt werden. Wesentlich trägt dazu auch bei, dass das Modell eine Auflösung auf jede einzelne der 8760 Jahresstunden hat.

Ohne Atomstrom resultiert ein Aussenhandelsverlust

Die nächste Grafik zeigt die vollständigen Netto-Systemkosten im Jahr 2050 für die drei Szenarien bei 100 Prozent Aussenhandel (links blau) und bei Autarkie (rechts grau).

Mit Netto-Systemkosten ist gemeint, dass von den Bruttokosten der Ertrag aus dem Aussenhandels-Saldo abgezogen wird, oder dass ein Verlust hinzugezählt wird. Tatsächlich gibt es da zwischen den «Atom»-Szenarien und der Variante «Nur Erneuerbare» eine Differenz: Wenn mit Bandstrom aus Kernkraft- und Flusskraftwerken rund um die Uhr eine zuverlässige Basis vorhanden ist, kann die Flexibilität unserer Wasserspeicher- und Pumpspeicherwerke gewinnbringend eingesetzt werden.

Die billigste Variante:  Laufzeitverlängerung von Gösgen und Leibstadt

Wenn das System aber zum grössten Teil aus unsteuerbaren Quellen wie Fotovoltaik und Wind gespiesen wird, sind kalkulierbare Erträge aus der flexiblen Wasserkraft nicht mehr möglich. So zeigt denn das POSY-Modell im Szenario 2NK einen Gewinn aus Import/Export von rund einer Milliarde US-Dollar und im Szenario LZV einen solchen von 0,6 Milliarden. Im NEB-Szenario jedoch resultiert ein Aussenhandelsverlust von 0,3 Milliarden Dollar.

Die erste Kernaussage der Studie stützt sich auf die blauen Balken: Bei einem optimal ins europäische Stromnetz eingebundenen Elektrizitätssystem Schweiz stellt das Szenario mit einer Laufzeitverlängerung von Gösgen und Leibstadt bis ins Jahr 2050 die kostengünstigste Variante dar. Auf Platz zwei steht die Option mit dem Bau zweier neuer Kernkraftwerke, die etwas teurer zu stehen käme – wohlverstanden aber auf der Kostenbasis des weit überteuerten europäischen EPR. Die vom Schweizer Stimmvolk beschlossene Energiestrategie 2050 – das Szenario NEB – wird uns dagegen mehr als doppelt so viel kosten.

Jede Abschottung vom Ausland lässt die Kosten steigen

Und die zweite Kernaussage ist: Sobald der Stromaustausch über die Grenzen beeinträchtigt wird, erhöht das die Systemkosten. Bei vollständiger Autarkie steigen sie in jedem Fall auf mehr als das Doppelte.

Eine Kombination aus der Laufzeitverlängerung bestehender Kernkraftwerke und dem Bau neuer Anlagen würde die Kosten der Energiewende wohl nochmals verringern.

Diese Schlussfolgerungen zeigen, dass der 2017 eingeschlagene Energiewende-Weg mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und der Forcierung von Solar und Wind offensichtlich nicht funktioniert. Was also ist zu tun?

Das Verbot für den Bau neuer Kernkraftwerke muss fallen

Erstens müssen wir darauf hinarbeiten, dass unsere noch laufenden Kernkraftwerke ständig dem neuesten Stand der Technik gemäss nachgerüstet werden (was bereits geschieht) und so über ihre geplante Laufzeit von etwa 60 Jahren hinaus in Betrieb bleiben können. Dies ist nicht nur die kostengünstigste Lösung, sondern sie gibt auch zeitlichen Spielraum für den Einsatz von Technologien, die heute noch nicht reif sind.

Zweitens müssen wir erreichen, dass das Verbot einer Rahmenbewilligung für neue Kernkraftwerke aus der Gesetzgebung gestrichen wird. Damit wäre der Weg frei für die Planung neuer Kernkraftwerke der neuesten Generation, die noch sicherer sind. Vor allem aber – und dies

hat die NEA-Studie leider nicht gemacht – wäre dann eine Kombination aus der Laufzeitverlängerung bestehender Kernkraftwerke und dem Bau neuer Anlagen möglich. Dies würde wohl – das wage ich aufgrund der Resultate dieser Studie zu interpolieren – die Kosten der Energiewende nochmals verringern.

Schwache Reaktion der Axpo

Und wie reagiert die Axpo auf die NEA-Studie? Sie teilt die Auffassung der Kernenergie-Agentur, «dass ohne staatlich garantierte Rahmenbedingungen kein Investor aufspringen wird.» (siehe hier). Danach aber beklagt der Energiekonzern defensiv nur die Kosten- und Zeitüberschreitungen bei den bestehenden Kernkraft-Neubauprojekten in Europa sowie die angeblich fehlende gesellschaftliche Akzeptanz. Allerdings sagt die Axpo nichts über die grossen Vorteile der Kernenergie punkto Versorgungssicherheit und der Klimaneutralität, womit sie gute Argumente für solche garantierte Rahmenbewilligungen liefern würde.

Die Axpo bestätigt nicht einmal die erste Kernaussage der Studie, wonach eine Laufzeitverlängerung die günstigste Variante wäre. Dagegen bringt sie als Backup bei Dunkelflauten neue Gaskraftwerke ins Spiel – sagt aber kein Wort zu neuen Kernkraftwerken. Schade, dass unser grösster halbstaatlicher Energieversorger sich nicht klarer zu den offensichtlichen Fakten bekennt, die aus der NEA-Studie hervorgehen.

6 Kommentare zu “Mit Kernkraftwerken wird die Energiewende billiger

  1. Arturo Romer

    Herr Prof. Martin Schlumpf informiert auch in diesem Artikel sehr verständlich, sachlich und ehrlich. Ich teile seinen kritischen Geist. Mit einem Anteil von moderner Kernenergie (Bandenergie!) am gesamten Energieverbrauch wird unsere geplante Energiewende nicht nur billiger, sondern auch sicherer und zuverlässiger. Ich bin mit dem 3. Szenarium der erwähnten Studie nicht voll einverstanden. Ich sage nein zu den Reaktoren vom Typ EPR. Die Autoren der Studie hätten anstelle von Kernreaktoren der Generation III eher Reaktoren der Generation IV beantragen sollen. Zum Beispiel Thorium-Reaktoren der Generation IV (mit eindrücklichen Vorteilen). Vergessen wir jedoch nicht: unsere Wasserkraft wird auch inskünftig Spitze bleiben. Ja zu modernen, effizienten, bezahlbaren und sicheren Kernreaktoren der Generation IV. Ja zur weiteren Verstärkung der Wasserkraft. Ja auch zur gezielten, sinnvollen und tragbaren Realisierung der Fotovoltaik. Ja zum verantwortungsvollen Umgang mit Rohstoffen und Energie.

  2. Jörg Hofstetter

    [Ohne Ironie:] Vielen Dank für Ihre Antwort, das habe ich tatsächlich falsch verstanden!

    Fakt bleibt: Ohne die Betrachtung des Aussenhandels sind im Szenario „50 % Interconnection“ die Kosten der beiden Szenarien Solar (inkl. Speicher) und AKW durchaus vergleichbar! Dies ist doch eine gute Nachricht und deckt sich in etwa mit anderen Studien.

    Die Studie geht also einen Schritt weiter und verrechnet die besseren Export-Möglichkeit. Warum nicht noch einen Schritt weiter gehen und eine Sicherheitsprämie verrechnen, weil AKW’s nicht versichert werden können? Und, und, und – so etwas ist Uferlos.

  3. Konrad Kugler

    Mein Konter
    Wozu haben wir Bodenschätze in großen Mengen? Zum Aufheben?
    Die wachsnde Erdbevölkerung braucht CO2 in der Luft, damit die Pflanzen besser gedeihen, die Ernten größer und wertvoller werden und der Hunger zurück geht.
    Warum hat man auf die Georgia Guide Stones einen Anschlag inszeniert? Um sie unauffällig beseitigen zu können. Kein Mensch redet mehr darüber, daß die 500 000 000 Obergrenze in den Köpfen der Menschheitsverringerer tatsächlich da ist. Bill Gates spricht vom Impfen und einer Reduzierung von 10 bis 15 %.
    Überall werden Schäden durch die Nutzung von PV- und Windkraftanlagen sichtbar. Ein irrer Materialverbrauch um eher geldschädlichen Sonnenstrom zu erzeugen. Entweder Unter- oder Überangebot, zahlen müssen wir immer. Beim Überangebot damit wir ihn loswerden.
    Nur die thermische Nutzung bringt echten Nutzen als Energiespeicher.

  4. Klar, eine Variante, welche auf die Verlängerung bereits abgeschriebener AKW’s setzt, kommt günstig weg kommt. Auch klar, dass eine völlige Autarkie einen hohen Preis hat.
    Konzentrieren wir uns daher auf den in der Studie skizzierten Weg mit „50% Interconnection“ und betrachten die Fig. 4.3 in der Originalstudie.

    Was fällt auf: Die Summe der „Physical System Costs“ und der „Sum of connect, grid and balanc. cost“ sind für „VRE Only“ (Solar) und „New Nuclear 3.2 GW“ durchaus vergleichbar!

    Jetzt kommt Magie ins Spiel: Bei VRE Only wird ein Zuschlag für entgangenen Stromhandel zugeschlagen, gleichzeitig (!) bei der Nuklear-Variante aber abgezogen!
    So werden diese „Kosten“ gleich zweimal verrechnet! Ein grundlegender Fehler der Studie.

    Im Übrigen kann ich Ihrer Schlussfolgerung aus der Studie nicht folgen:
    „…dass der 2017 eingeschlagene Energiewende-Weg mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und der Forcierung von Solar und Wind offensichtlich nicht funktioniert.“
    Ich denke im Gegenteil, die Studie zeigt dass der eingeschlagene Weg machbar und auch finanzierbar ist.

    • Martin Schlumpf

      Der grundlegende Fehler liegt bei ihnen, nicht in der Studie.
      In Fig. 4.3 sind bei 50% Interconnection die jährlichen Systemkosten (inkl. connect, grid und balance) der beiden Szenarien, die sie ansprechen – „New nuclear 3.2 GW“ und „VRE only“ (Nur Erneuerbare) – zwar etwa gleich hoch, aber das POSY-Modell der NEA berechnet danach für die beiden Szenarien getrennt, wie die Aussenhandelsbilanz unter diesen Bedingungen aussieht. Dabei resultiert im „New nuclear“-Szenario ein Nettoüberschuss von rund 0.6 Milliarden Dollar, weil der zuverlässige Bandstrom aus den KKW einen viel besser kalkulierbaren Aussenhandel ermöglicht. Im „Nur Erneuerbare“-Szenario jedoch resultiert wegen der extremen Volatilität der Erneuerbaren ein Import/Export-Verlust von etwa 0.6 Mrd. Diese beiden Zahlen sind aber völlig unabhängig voneinander (das sieht man sofort, wenn man die übrigen Szenarien vergleicht), sodass aus ihrer Kritik, dass die „Kosten gleich zweimal gezählt würden“, nur ihr völliges Unverständnis dieses entscheidenden Teils der Studie abgeleitet werden kann.

      • Martin Schlumpf

        Fortsetzung Kommentar:
        Und das Endresultat nach verrechnung des Aussenhandels: 2.09 Milliarden Dollar für das „New nucler“-Szenario und 3.43 Mrd. Dollar für das „Nur Erneuerbare“-Szenarion. Diese grosse Kostendifferenz (1340 Millionen pro Jahr) zeigt dann wiederum, warum ich in der Zusammenfassunf den von ihnen zitierten Satz gechrieben habe: Die Kosten für den Weg mit „Nur Erneuerbaren“ ist enorm viel teurer – und deshalb „funktioniert“ diese Energiewende nicht.

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