Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 122“ im Online-Nebelspalter vom 5. August 2024 zu lesen.
m Rahmen der Energiekrise, die durch den russischen Einfall in die Ukraine ausgelöst wurde, haben viele europäische Regierungen ihre Bürger zum Stromsparen aufgerufen. Das hat zwar zu einer etwas kleineren Zunahme des globalen Stromverbrauchs im letzten Jahr beigetragen, dieser Effekt ist aber bereits verpufft: Die prognostizierte Zuwachsrate beim Strom für 2024 übertrifft alle Werte seit 2007 – abgesehen von den Erholungseffekten nach den starken Nachfrageeinbrüchen wegen der Finanzkrise und der Pandemie.
Was wichtig ist:
– Nach den Prognosen der Internationalen Energieagentur nimmt der globale Stromverbrauch in diesem Jahr gegenüber 2023 um satte 4,2 Prozent zu.
– Hauptverantwortlich für diesen zusätzlichen Bedarf sind China und Indien mit Zuwachsraten von sechs bis acht Prozent.
– Immerhin konnten die CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung trotz steigendem Verbrauch stabilisiert werden – noch gibt es aber keine Anzeichen für einen Rückgang dieser Emissionen.
Die Internationale Energieagentur (IEA) hat im Juli dieses Jahres in einem «Elektrizitäts-Halbjahresbericht 2024» ihre Angaben für 2023 bereinigt und die Prognosen für 2024 und 2025 auf den neuesten Stand gebracht (siehe hier). IEA-Berichte über Elektrizität umfassen jeweils die Resultate der aktuellen Stromnachfrage und Stromerzeugung, sowie der CO2-Emissionen. Zudem gibt es Informationen zu den Strompreisen. Dazu kommen entsprechende Prognosen für die unmittelbare Zukunft.
Die folgende Grafik aus diesem neuesten Halbjahresbericht zeigt die Jahr-für-Jahr-Veränderungen des globalen Stromverbrauchs in Prozent für die Zeit von 1991 bis 2025:
Von den aufgeführten 35 Jahren gibt es nur zwei, in denen der Stromverbrauch weltweit abgenommen hat: Es waren die wirtschaftlich schlechten Jahre der Finanzkrise 2009 und der Corona-Pandemie 2020. Der minimale Bedarfsrückgang in diesen Jahren wurde jedes Mal aber durch ein besonders starkes Wachstum des Stromverbrauchs im Folgejahr kompensiert: Somit resultiert im Schnitt der letzten drei Jahrzehnte ein Wachstum des globalen Elektrizitätsbedarfs zwischen zwei und drei Prozent.
2024 und 2025 wächst der globale Strombedarf stärker als zuvor
Eine längere Periode mit jährlich sehr hohen Wachstumsraten von über vier Prozent gab es zwischen 2002 und 2007: Dieses höhere Wachstum war aber praktisch ausschliesslich auf den grössten Wachstumsboom zurückzuführen, den China je erlebt hat. Und nun prognostiziert die IEA – nach einer Phase geringeren Wachstums – eine ähnlich hohe Zunahmerate des Strombedarfs von 4,2 Prozent für 2024 und von 4,1 Prozent für 2025.
Für diesen gesteigerten Bedarf identifiziert der Bericht drei Haupttreiber: Erstens ein Wirtschaftswachstum, das nach der Pandemie wieder erstarkt ist, zweitens einen erhöhten Kühlbedarf wegen mehr Hitzewellen und drittens den gesteigerten Zubau stromintensiver Datenzentren wegen vermehrtem Einsatz von künstlicher Intelligenz. Natürlich unterscheidet sich die Wirkung dieser Treiber in den verschiedenen Weltregionen.
Schauen wir deshalb, wie sich der Stromverbrauch in den vier Regionen entwickelt hat, die fast allein für das gesamte Welttotal verantwortlich sind: gemeint sind China, die USA, die Europäische Union (EU) und Indien. Die nächste Grafik zeigt den Elektrizitätsbedarf dieser vier Regionen in Milliarden Kilowattstunden (Terawattstunden, TWh) ebenfalls für die Zeitspanne von 1991 bis 2025:
Im letzten Jahr 2023 lag der jährliche Stromverbrauch in China (rot) bei 9300 TWh, in den USA (hellgrün) bei 4250 TWh, in der EU (blau) bei 2600 TWh und in Indien (gelb) bei 1700 TWh. Damit war der Strombedarf Chinas mehr als doppelt so hoch wie derjenige der USA, der EU und Indien zusammen. Ohnehin ist die Entwicklung Chinas beispiellos: Von unter 1000 TWh im Jahr 1991 stieg der Bedarf kontinuierlich bis heute an – mit zunehmender Geschwindigkeit seit 2002.
Indien hat riesiges Nachholpotenzial
Auch in Indien stieg der Bedarf kontinuierlich, wenn auch auf viel tieferem Niveau als in China: 2023 war der Stromverbrauch pro Kopf in Indien noch über fünfmal kleiner als in China. Dies zeigt, wie gross der Nachholbedarf Indiens ist: Die Art und Weise, wie dieses inzwischen bevölkerungsreichste Land der Welt seine Energienachfrage in Zukunft decken wird, wird das globale Gesamtbild entscheidend prägen.
Im Unterschied zu China und Indien zeigen die Kurven der beiden hochentwickelten Regionen USA und EU, dass Wirtschaftswachstum auch ohne grossen zusätzlichen Strombedarf möglich ist: Seit den 2000er Jahren stagniert der Stromverbrauch in diesen beiden Regionen – mit leicht sinkender Tendenz in der EU und leicht steigender Tendenz in den USA.
Sogar in den USA und der EU soll der Verbrauch wieder steigen
Nach neuesten Prognosen der IEA wird der Stromverbrauch 2024 und 2025 aber in allen vier Regionen steigen – sogar in den USA und der EU. Im Durchschnitt dieser beiden Jahre wird die jährliche Wachstumsrate in Indien mit 7,5 Prozent am grössten sein, gefolgt von China mit 6,3 Prozent. Die Schätzungen für die USA liegen bei 2,5 Prozent, und für die EU sieht die IEA eine Wachstumsrate von 2,2 Prozent vor.
Welche Auswirkungen hat dieser stark wachsende Stromverbrauch auf die CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung? Dabei ist zu bedenken, dass die Emissionen aus der Stromproduktion an den gesamten CO2-Emissionen der Welt nur rund 36 Prozent ausmachen. Die nächste Grafik aus dem IEA-Halbjahresbericht 2024 zeigt, welche Auswirkungen der prognostizierte wachsende Stromverbrauch von 2024 und 2025 auf die CO2-Bilanz der einzelnen Regionen hat:
Die Grafik zeigt die Bilanz der CO2-Emissionen aus der Stromproduktion in den einzelnen Weltregionen zwischen dem Status quo von 2023 und der IEA-Prognose für 2025. Alle Zahlen sind in Millionen Tonnen CO2 angegeben. Im globalen Total (schwarze Punkte) sinken die Emissionen in diesen zwei Jahren kaum merklich von 13’684 auf 13’663 Millionen Tonnen CO2.
Indien kompensiert den europäischen Erfolg
Diese Stabilisierung der Emissionen auf hohem Niveau ist vor allem das Resultat einer namhaften Reduktion der EU und des übrigen Europas (grün) und einer fast ebenso grossen Zunahme in Indien (gelb), die sich gegenseitig mehr oder weniger kompensieren. Europa schafft die Verminderung der Emissionen durch den Zubau von Wind- und Solaranlagen sowie von Kernkraftwerken. In Indien ist der starke Mehrverbrauch an Strom noch immer stark vom Bau neuer Kohlekraftwerke geprägt, was die Emissionen in die Höhe treibt.
Erstaunlich ist, dass es China bereits geschafft hat, seine Emissionen zu stabilisieren – und dies trotz immer noch sehr hohen Zuwachsraten beim Stromverbrauch. Das hängt damit zusammen, dass China sowohl die Solar- und Windenergie als auch die Kernenergie stark gefördert hat. Das sind alles CO2-arme Technologien.
Fazit: Für viele Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern ist der Zugang zu (mehr) Strom der Schlüssel zu besseren Lebensbedingungen. In diesem Sinne sind hohe Zuwachsraten beim Strom in solchen Regionen zu begrüssen. Allerdings müssen wir ebenso zur Kenntnis nehmen, dass wir es bei der Klimapolitik zwar geschafft haben, die CO2-Emissionen zu stabilisieren – von einer Dekarbonisierung ist die Welt aber noch immer weit entfernt.
Die nächste Grafikkolumne von Martin Schlumpf im „Nebelspalter“ erscheint am 9. September.
Ne sont pas inclus: le taux de co2 du mix énergétique du pays producteur, le transport, le démantèlement et recyclage (en France), ni l’opération nulle lorsque les ENR déplacent le nucléaire ou l’hydraulique ou en cas d’écrêtement (on paie des grands consommateurs pour absorber le trop de production)
Ein weiteres Mal ein gut recherchierter Artikel!
Interessant zu wissen wäre allerdings, wie der Europäische „Erfolg“ gerechnet wurde. Wie bekannt, verursachen Wind- und Solarenergie deutlich mehr CO2-Emissionen (Faktoren 3 – 6 Mal mehr) als z.B. Kernenergie oder Wasserkraft, sofern man die CO2-Emissionen auf der Basis von life-cycle Analysen berechnet.
Vor diesem Hintergrund ist der bschriebene Europäische „Erfolg“ schwer nachvollziehbar…
Besten Dank!
Ich habe nicht recherchiert, wie die CO2-Emissionen von der IEA berechnet wurden. Aber ich denke, dass sie nicht die Zahlen der vollständigen Life-Cycle-Analysen verwendet haben. Und auch beim Stromverbrauch werden die Zahlen von Wind- und Solarenergie ohne Backup- und Speicher-Notwendigkeit gerechnet.
Also insgesamt ein zu „schönes“ Bild.