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Die falschen Solarträume des „Sonntagsblicks“

Die Schweiz könne ihren gesamten Energiebedarf kostengünstig mit Solarkraft decken und damit weitgehend vom Ausland unabhängig werden: Dies hat der «Sonntagsblick» verkündet. Dummerweise hat die Zeitung das Speicherproblem vergessen.

Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 45“ im Online-Nebelspalter vom 30. Mai 2022 zu lesen.

Im «Sonntagsblick» vom 22. Mai kommt Chefredaktor Gieri Cavelty in seinem Editorial zum Schluss, dass eine Schweiz möglich wäre, die von Energieträgern aus dem Ausland weitgehend unabhängig ist, weil wir unseren gesamten Energiebedarf nur mit Wasser- und vor allem Solarkraft decken können. Der Grund, warum wir dieses Ideal noch nicht erreicht hätten, liege ausschliesslich bei unserem mangelnden Willen – technisch wäre dies alles möglich. Dabei stützt sich Cavelty auf einen Artikel seines Kollegen Danny Schlumpf ab.

Doppelt soviel Solarenergie wie der gesamte Energieverbrauch?

In diesem Beitrag meines Namensvetters unter dem Titel «Der Preis ist unschlagbar» wird gezeigt, wie mit sogenannten Plus-Energie-Bauten massive Solarstrom-Überschüsse erzielt werden können, die sich finanziell rechnen. Bei optimaler Wärmedämmung mit dem Minergie-Passivhaus-Standard und einer möglichst gross dimensionierten Fotovoltaikanlage kann in Extremfällen bis zum Siebenfachen des Eigenverbrauchs an Strom erzeugt werden.

Eine im Artikel zitierte Studie des Vereins «Solar Agentur Schweiz» (siehe hier) zeigt Folgendes: Wenn die Hälfte aller Gebäude nach der Plus-Energie-Norm gebaut oder saniert würden, könnten daraus 127 Terawattstunden Solarstrom erzeugt werden. Das ist rund doppelt soviel wie wir heute an Strom verbrauchen. Und bei einer Quote von 80 Prozent aller Gebäude würden angeblich sogar 435 Terawattstunden resultieren. Das ist mehr als doppelt soviel wie unser gesamter Energiebedarf, der unter anderem auch den Verkehrsantrieb und die Heizungen umfasst. Das klingt nach dem Paradies auf Erden.

Wackelige Paradiesvorstellungen

Allerdings stutzt man, wenn man liest, dass gerade einmal 230 von annähernd 1,8 Millionen Gebäuden in der Schweiz nach dieser Norm gebaut sind: also nur einer von 8000 Hausbesitzern hat sich bisher für diesen Standard entschieden. Aus dieser Optik ist es verständlich, dass Chefredaktor Cavelty die Forderung aufstellt, dass die kantonalen Gebäude-Bauvorschriften bezüglich Anforderungen an die Wärmedämmung und die Ausrüstung mit Fotovoltaik-Anlagen verschärft werden sollten. Aber würden solche staatlichen Vorschriften überhaupt zum gewünschten Ziel einer weitgehenden Energieautarkie führen?

Eine für den Eigenverbrauch um zwei Drittel zu gross dimensionierte Anlage schafft es nur, ein Drittel des Verbrauchs eines Einfamilienhauses zu decken.

Bei weitem nicht. Schon die ohne Diskussion in den Raum gestellte Annahme, dass jährlich grosse Überschüsse an Solarstrom eine gesicherte Stromversorgung garantieren würden, ist irreführend. Denn hier zeigt sich, wie wacklig die Paradiesvorstellungen des «Sonntagsblicks» sind. Das ist am einfachsten zu verstehen, wenn wir kurz ein Musterbeispiel aus der Broschüre «energiejournal» anschauen. Diese Zeitung wird von «EnergieSchweiz» (siehe hier), dem Programm des Bundesrates für Energieeffizienz und erneuerbare Energien, gratis an alle Haushalte verteilt.

Nur ein Drittel des Verbrauchs gedeckt

In der neuesten Ausgabe von Mai 2022 wird auf Seite 5 ein Rechenbeispiel einer Solaranlage für eine vierköpfige Familie gemacht (siehe hier). Diese Familie verbraucht pro Jahr inklusive Wärmepumpe 12’300 Kilowattstunden Strom. Ihre grosse Solaranlage mit 100 Quadratmetern Dachfläche erzeugt jährlich 20’000 Kilowattstunden Strom. Der gesamte Stromverbrauch der Familie ist also mit der eigenen Anlage nicht nur vollständig gedeckt, sondern sie produziert übers Jahr gerechnet sogar noch 63 Prozent Überschussstrom. Das entspricht der Rechnungsweise des «Sonntagsblicks».

Zum Glück weist das Rechenbeispiel auch den Eigenverbrauch dieser Anlage aus – also das, was diese Familie von den 20’000 Kilowattstunden tatsächlich gebrauchen konnte. Und das sind 4060 Kilowattstunden, also nur 20 Prozent davon. Statt der oben angenommenen 100-Prozent-Abdeckung ihres Stromverbrauchs von 12’300 Kilowattstunden sind in Wirklichkeit also nur 33 Prozent aus der eigenen Anlage gekommen: Eine für den Eigenverbrauch um zwei Drittel zu gross dimensionierte Anlage schafft es also nur, ein Drittel dieses Verbrauchs zu decken.

Aufschlussreich sind Stundenwerten

Dieses Auseinanderklaffen – dieser «mismatch» – zwischen Erzeugung und Bedarf bei der Fotovoltaik ist zwar den meisten Menschen irgendwie bekannt, aber offensichtlich kümmern sich viele nicht darum. Der einzige Weg, hier die tatsächlichen Verhältnisse erfassen zu können, liegt in der Analyse des Stromsystems in zeitnaher Auflösung, also mindestens in Stundenwerten: Nur so können alle Schwankungen dieser Flatterstromerzeugung von Solaranlagen erfasst werden. Dies wurde bisher für das Schweizer Stromsystem erstaunlicherweise aber nur in der 2019 veröffentlichten Empa-Studie von Martin Rüdisühli et al. gemacht (siehe hier). Die folgende Grafik – Figure 23 der Studie – stellt Produktion und Verbrauch in Wochenwerten dar, die aus den Stundendaten zurückgerechnet wurden.

Die blauen Balken unten zeigen die gesamte inländische Stromerzeugung ohne die Kernenergie, also zum weitaus grössten Teil den Ertrag der Wasserkraft. Und darüber (gelb, gestapelt) sieht man den Input aus genauso vielen Fotovoltaikanlagen, die notwendig sind, um bis Ende Jahr die gleiche Strommenge zu erzeugen, wie unsere bisherigen Atomkraftwerke. Diesem Produktionsmix steht die dicke rote Verbrauchskurve (Base consumtion) gegenüber, die den status quo des heutigen Verbrauchs zeigt.

Schon in diesem Ausgangsszenario – in dem nur das Jahrestotal Atomstrom durch dieselbe Menge Solarstrom ersetzt wurde – zeigt sich bereits deutlich, wie sich Produktion und Verbrauch im saisonalen Wechsel stark gegenläufig verhalten: Während in den Wintermonaten, wo der Verbrauch höher ist, zu wenig Strom erzeugt wird, gibt es im Sommer grosse Überschüsse. Dabei verstärkt der Fotovoltaikstrom mit seiner Winterschwäche in unglücklicher Weise die bereits bestehende saisonale Gegenläufigkeit von Verbrauch und Erzeugung aus den Wasserkraftwerken. Die grossen Stromlücken im Winter sind dabei grau als Importe gekennzeichnet – wobei sich allerdings mehr und mehr abzeichnet, dass diese immer weniger gesichert sind.

Das Winterdefizit wächst auf das Sechsfache

Hauptsächlich aber hat diese Studie untersucht, welche Folgen eine Elektrifizierung unseres Energiesystems hat. Dabei wurde angenommen, dass 75 Prozent der Gebäude mit Wärmepumpen und 20 Prozent des gesamten Verkehrs mit batteriebetriebenen Elektro-Fahrzeugen ausgerüstet werden. Der dadurch verursachte Mehrverbrauch an Elektrizität ist mit den rot gestrichelten Linien ganz oben eingezeichnet. Und wie die Grafik zeigt, ist das Resultat beunruhigend: Vor allem die Winterstromlücke wächst enorm an. Sie erreicht bei einer Solarproduktion von 24 Terawattstunden (als Substitution der Kernkraftwerke) schwindelerregende 23 Terawattstunden. Das ist fast sechsmal mehr als im Durchschnitt der letzten Jahre.

Die Gretchenfrage ist: Wie gross ist die Winterstromlücke, und wie weit können wir sie mit Speicherung der Sommerüberschüsse abdecken?

Und wohlverstanden, auch in dieser Studie ist bereits eingerechnet, dass der Einbau einer Wärmepumpe nur Sinn macht, wenn die damit ausgerüsteten Gebäude auch entsprechend isoliert sind. In diesem Sinn können die Resultate der Empa-Studie praktisch eins zu eins auf die «Sonntagsblick»-Angaben übertragen werden. Und das heisst dann nichts anderes, als dass sich bei allen vermeintlich paradiesischen Zahlen des «Sonntagsblick» die Gretchenfrage stellt: Wie gross ist die Winterstromlücke, und wie weit können wir sie mit Speicherung der Sommerüberschüsse abdecken?

Auch Windräder helfen nicht weiter

Völlig vergessen hat das Chefredaktor Gieri Cavelty offenbar auch nicht, denn er schreibt: «Und für jene Tage im Spätwinter, da die Sonne spärlich scheint und die Pumpspeicherseen leer sind, gäbe es ja zusätzlich die Windräder.» Dabei ist richtig, dass die Gefahr einer Strommangellage gegen Ende Winter besonders gross ist. Aber falsch liegt er bei den Pumpspeicherseen: Unsere Wasserstromrückversicherung im Winter sind die Speicherseen, nicht die Pumpspeicherseen. Denn die wenigen Pumpspeicherwerke, die wir haben, sind in keiner Weise geeignet, den Stromüberschuss aus dem Sommer aus Fotovoltaik in den Winter zu transportieren (siehe hier).

Und der Verweis auf die Windräder ist reichlich naiv: Abgesehen davon, dass es in der Schweiz zum Glück schwierig ist, die Landschaft damit zu verbauen, ist der Stromertrag aus Windkraft mindestens ebenso unberechenbar wie derjenige aus der Fotovoltaik. Zwar bläst der Wind im Winter generell stärker als im Sommer, aber Gnade Gott, wenn man sich als letzte Rückversicherung darauf verlassen würde.

Die saisonale Stromspeicherung funktioniert nicht

In einem Punkt bin ich mit dem «Sonntagsblick»-Chefredaktor einig: Unsere Vorfahren haben grosse Voraussicht und Mut bewiesen, als sie unser Wasserkraftsytem gebaut haben, das als verlässlicher Pfeiler unseres Stromsystems funktioniert. Und auch eine gute Wärmedämmung der Gebäude bei Neubauten und Renovationen ist sicher sinnvoll. Problematisch aber wird es beim Zwang für Solaranlagen auf jedem Dach und jeder Fassade, weil – wie die Empa-Studie zeigt – damit die Winterstromlücke gefährlich wächst.

In einer Studie zeigen ETH und Empa, dass die Lösungen mit Batterien und Pumpspeicherung technisch nicht funktionieren.

Und vor allem aber, weil wir heute noch kein System kennen, das die notwendige langfristige Speicherung der Sommerüberschüsse in den Winter zu vernünftigen Bedingungen und Kosten ermöglicht. In einer anderen ETH/Empa-Studie von 2022 (siehe hier und hier) zeigen die Autoren, dass die Lösungen mit Batterien oder Pumpspeicherung technisch nicht funktionieren, und dass der Einsatz von Wasserstoff oder Synfuel horrend teuer wird und zudem gewaltige Fotovoltaikflachen dafür benötigt werden.

Bestehende Kernkraftwerke so lange wie möglich behalten

Was also sollen wir tun? Die Lösung ist eigentlich simpel: Wir haben immer noch vier Kernkraftwerke, die die benötigte Grundlast als Bandstrom perfekt liefern – vor allem im Winter. Wenn wir diese Anlagen technisch up-to-date halten, ist es möglich, ihre Laufzeit auf mindestens 60 Jahre zu verlängern (siehe hier). Somit würde sich frühestens in zehn Jahren die Frage stellen, ob wir Beznau 1 vom Netz nehmen.

Weil der Atomstromanteil von Beznau mit zwölf Prozent aber vergleichsweise gering ist, wäre das verkraftbar. Und bei einer Laufzeit von 80 Jahren bei unserem jüngsten Werk in Leibstadt könnten mehr als 40 Prozent des heutigen Atomstroms sogar bis 2064 gesichert bleiben. So würde uns für die Planung neuer Kernkraftwerke der neuesten Generation genügend Zeit bleiben.

Wir stehen vor einer Schicksalsfrage: Atomstrom Ja oder Nein? Klar ist dabei: Je früher wir die Kernkraftwerke vom Netz nehmen, desto abhängiger werden wir im Winter von Stromimporten. Das ganze «Sonntagsblick»-Paradies mit dem massiven Solarausbau – der fast nur mit chinesischen Modulen möglich ist – würde uns deshalb in eine neue Auslandabhängigkeit führen und hätte einen gewaltigen Materialverschleiss mit entsprechenden Abfallproblemen zur Folge.

Ich bin nicht gegen Fotovoltaikanlagen. In einzelnen Fällen können diese einen sinnvollen Beitrag liefern. Aber aus systemtechnischen Gründen sollten wir sie nicht subventionieren. Eher sollte man darüber diskutieren, warum wir neuerdings für ein überschüssiges Gut – die gelben Solarbalken in der Mitte der Grafik – sogar noch gute Vergütungen zahlen wollen: In Anbetracht der Alternative Kernkraft macht das wenig Sinn.

6 Kommentare zu “Die falschen Solarträume des „Sonntagsblicks“

  1. Guntram Rehsche

    Energiewende-und Solarstrom-Skeptikern ins Stammbuch geschrieben von wegen «Solarstrom hat doch keinen Wert»: Marktwert Solar erreicht fast 40 Cent pro Kilowattstunde im August. Es ist der höchste Wert, den es jemals für eine eingespeiste Kilowattstunde Solarstrom an der Börse gab. Das deutsche EEG-Konto liegt nicht zuletzt wegen der hohen Einnahmen aus dem Stromverkauf an der Börse mittlerweile bereits fast 17,5 Milliarden Euro im Plus.

  2. Guntram Rehsche

    Was Viele nicht für möglich gehalten haben: Nun bestätigt Bund, dass Stromerzeugung aus Sonnenlicht (Photovoltaik) tragende Säule der Energieversorgung (Strom) der Schweiz wird – Atom ist demgegenüber out – Siehe https://solarmedia.blogspot.com/2022/06/pv-tragende-saule-der-schweizer.html

    • Martin Schlumpf

      Lächerlich: Wenn Sie selber auf Ihrem Blog behaupten, dass PV-Strom eine tragende Rolle in der CH-Energieversorgung spiele, heisst das nicht, dass das auch der Bundesrat sagt. Was er selbstverständlich nirgends tut, denn bei ein paar wenigen Prozent Stromanteil von tragender Säule zu sprechen ist Blödsinn.

      • Guntram Rehsche

        Lesen sollte man dann doch bis zum Schluss! Nicht ich behaupte das, sondern ich gebe einen Text es Bundesamts für Energie wieder – siehe Autorenzeile: Wieland Hintz, Verantwortlicher Solarenergie, Bundesamt für Energie. Was ist denn da nun lächerlich?

  3. Hätte Chefredaktor Gieri Cavelty die Grafik mit dem mittleren Tagesleistungsverlauf der Solarstromproduktion für jeden einzelnen Monat angesehen, siehe unten stehenden Link, hätte er sein Editorial wohl etwas anders formuliert.

    https://rene.weiersmueller.com/files/treibt-uns-solarstrom-in-den-ruin.pdf

  4. Arturo Romer

    Ein kompetenter, seriöser, sachlicher, realistischer und ehrlicher Beitrag. Der Leser kann dem Autor vertrauen. Die Photovoltaik ist wichtig und wird je nach Region immer wichtiger werden. Doch alle Probleme wird sie nie lösen können, auch nicht in der Schweiz (siehe z.B. Winterstromlücke). Die Wasserkraft und die sichere Kernenergie der Generation IV werden für die Schweiz auch inskünftig sehr grosse Bedeutung haben. Wir brauchen einen effizienten Mix der erwähnten Energien. Es braucht noch mehr Wissen, Forschung und Entwicklung. Die Energieprobleme sind nicht mit Träumen, Lügen und Fanatismus lösbar.

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