Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 120“ im Online-Nebelspalter vom 22. Juli 2024 zu lesen.
Eingeschworene Atomgegner kommen immer wieder mit der Behauptung, die Entsorgung radioaktiver Abfälle sei ungelöst. Dabei unterstellen sie, dass die Strahlung aus diesen Abfällen für Mensch und Umwelt während Hunderttausenden Jahren gefährlich sei. Im Folgenden zeige ich, dass die gemessene Strahlenbelastung aus dem Zentralen Zwischenlager der Schweiz, wo diese Abfälle heute weniger gut geschützt gelagert werden, als in einem Tiefenlager, völlig vernachlässigbar ist.
Was wichtig ist:
– Die gesamte Strahlendosis für eine Person in der Schweiz beträgt im Schnitt knapp sechs Millisievert pro Jahr. Der grösste Teil davon stammt aus natürlichen Quellen.
– Die durchschnittliche Jahresdosis pro Schweizer Person aus dem Zwischenlager für radioaktive Abfälle beträgt nur 0,000004 Millisievert.
– Die Strahlenbelastung aus radioaktiven Abfällen im Zwischenlager ist somit total vernachlässigbar – dies gilt umso mehr in einem noch besser geschützten Tiefenlager.
Die Schweizerische Energie-Stiftung (SES), die sich explizit als Anti-AKW-Organisation versteht, schreibt im Internet über Atommüll (siehe hier), dass die Probleme für eine Tiefenlagerung dieser Abfälle einzigartig und nicht gelöst seien, insbesondere weil der hochaktive Abfall über Hunderttausende von Jahren strahle. Kein Wort wird dabei verloren über den Ort, an dem die Strahlung dieser Abfälle direkt gemessen und analysiert werden kann: dem Zentralen Zwischenlager (Zwilag) für radioaktive Abfälle in Würenlingen (siehe hier). Dort bleibt der Abfall, bis er in einigen Jahrzehnten in ein Tiefenlager überführt werden kann, wo die Strahlung weniger stark sein wird als im Zwischenlager..
Aufschmelzen, verkleinern, dekontaminieren
Seit 1999 werden im Zwilag sämtliche radioaktiven Abfälle aus der Schweiz gesammelt. Das sind hochaktive Abfälle aus dem Betrieb der Kernkraftwerke sowie bis 2016 aus der Wiederaufarbeitung von Brennelementen. Und es sind mittel- und schwachaktive Abfälle aus Kernkraftwerken sowie aus Industrie, Forschung und Medizin.
Für die schwach- und mittelaktiven Abfälle gibt es einen speziellen Plasmaofen, in dem diese Abfälle bei sehr hohen Temperaturen aufgeschmolzen werden. Damit wird ihr Volumen verkleinert, ohne dass sich dabei an der Strahlung etwas ändert. Die Reststoffe werden unter Zumischung von glasbildenden Stoffen endlagerfähig in Spezialfässer verpackt. Schwachaktive Abfälle werden ausserdem in einer sogenannten Konditionierungsanlage dekontaminiert, wodurch gewisse Materialien als konventioneller Abfall der Wiederverwertung zugeführt werden können.
Offene Lagerhalle für hochradioaktive Abfälle
Ganz anders ist das Verfahren bei den hochaktiven Abfällen: Diese kommen fertig verpackt in speziellen Transportbehältern via Bahn aus den Kernkraftwerken ins Zwilag. Dort wird bei der Eingangskontrolle lediglich geprüft, ob die Behälter dicht sind. Danach werden die Behälter in eine spezielle Lagerhalle gestellt, in der das sogenannte Prinzip der Trockenlagerung angewendet wird. Das bedeutet, dass die grosse Wärme, welche diese Behälter abstrahlen, durch einen natürlichen Umlauf der Luft abgeführt wird: Die Luft strömt durch Öffnungen in den Seitenwänden der Halle ein. Durch die Abwärme der Behälter wird die Luft erwärmt, steigt dadurch auf und verlässt die Halle durch weitere Öffnungen im Dach.
Diese speziellen Stahlbehälter für die hochaktiven Abfälle sind über sechs Meter hoch und wiegen bis zu 140 Tonnen. In ihnen sind die Abfälle gegen alle möglichen äusseren Einwirkungen wie Erdbeben, Flugzeugabsturz, Überschwemmungen und Terrorismus geschützt. Zudem schirmen die Behälter die Umgebung vor der Strahlung ab.
Hauptverursacher der Strahlung: Radon und medizinische Anwendungen
Schauen wir nun, wie gross die Strahlenbelastung ist, die vom Zwilag ausgeht. Sämtliche Radioaktivitäts-Messungen in der Schweiz werden von der Abteilung Strahlenschutz des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) gesammelt und ausgewertet (siehe hier). Im letzten dort verfassten Bericht «Strahlenschutz und Überwachung der Radioaktivität in der Schweiz – Ergebnisse 2022» (siehe hier) wurde die Bilanz der Strahlenexposition der Schweizer Bevölkerung für das Jahr 2022 berechnet – die entscheidende Referenzgrösse für die Zwilag-Strahlung.
Die folgende Grafik aus diesem Bericht zeigt, welchen Anteil die verschiedenen Expositionsquellen an der durchschnittlichen effektiven Dosis pro Jahr und Einwohner haben:
Wie man aus der Legende der Grafik ablesen kann, stammt die Radioaktivität von überall her: aus dem Weltall, aus dem Erdboden, aus der Nahrung, aus Radon in Wohnräumen, aus Flugreisen, aus Rauchen, aus Industrie, Forschung und Altlasten sowie aus medizinischer Bildgebung. Klare Hauptverursacher dieser gesamten Strahlenexposition sind das Radon (violett), das aus dem Erdboden in Gebäude dringt, sowie die medizinischen Anwendungen (dunkelgrün) wie Röntgenuntersuchungen, mit Anteilen von 56 respektive 25 Prozent.
Die Schweizer Jahresdosis beträgt sechs Millisievert
Alle Zahlen in der Grafik sind in Millisievert (mSv) pro Jahr angegeben. Die Summe aller angegebenen Expositionsquellen beläuft sich auf knapp sechs Millisievert – das ist also die gesamte effektive Dosis, die eine Person der Schweizer Bevölkerung im Durchschnitt pro Jahr erhält.
Und wo ist der Beitrag aus dem Zwilag? Er gehört in den Bereich «Industrie, Forschung, Altlasten», für den die Grafik einen Gesamtwert von 0,02 mSv angibt. Mit Informationen, die mir das Zwilag zur Verfügung gestellt hat, konnte ich die Zwilag-Jahresdosis unter konservativen Annahmen aus zwei Komponenten abschätzen: einerseits aus einem durchschnittlichen Wert für die Emissionen aus dem Kamin des Plasmaofens, und andererseits aus einer angenommenen Dosis, die man durch Direktstrahlung erhalten würde, wenn man eine Woche lang direkt beim Zaun des Zwilag campieren würde – was natürlich niemand tut.
Die Zwilag-Dosis ist 0,000004 Millisievert
Auf diese Weise gerechnet erhält eine Person im Umkreis des Zwilag eine Jahresdosis von 0,000004 mSv. Das ist eine derart kleine Zahl, dass das Rechnen damit eigentlich keinen Sinn mehr macht. Trotzdem versuche ich, diese Zahl mit einigen Vergleichen zu veranschaulichen.
Als Vergleichszahlen wähle ich die drei vorgeschriebenen Grenzwerte für eine Jahresdosis pro Person und Jahr, die für verschiedene Bevölkerungsgruppen in der Schweiz unterschiedlich angesetzt sind. Für die gesamte Schweizer Bevölkerung ist maximal ein Millisievert pro Jahr erlaubt. Für Personen im Umkreis eines Kernkraftwerks sind zusätzlich maximal 0,3 mSv erlaubt, und für Menschen rund um das Zwilag dürfen es zusätzlich nicht mehr als 0,05 mSv sein. Die nächste Grafik zeigt, wie stark die winzige Zwilag-Jahresdosis diese Grenzwerte prozentual ausschöpft:
Achten Sie bitte auf die Skala der y-Achse, die von Null nur bis 0,01 Prozent reicht: Alle in der Grafik gezeigten Zahlen bewegen sich also unterhalb eines 10’000-stels der entsprechenden Grenzwerte! Beim strengsten Grenzwert für die Anlage selbst (ganz rechts) macht die Zwilag-Dosis einen 12’500-stel oder 0,008 Prozent aus. Und beim Grenzwert für die gesamte Bevölkerung ist es ein 250’000-stel oder 0,0004 Prozent.
Die Zwilag-Dosis spielt überhaupt keine Rolle
Noch verrückter aber ist, was der erste Balken zeigt: Hier wird die Zwilag-Dosis von 0,000004 mSv in Prozent der in der ersten Grafik gezeigten Gesamtdosis für die Schweizer Bevölkerung von sechs mSv dargestellt: Die Zwilag-Emissionen machen einen 1’500’000-stel oder 0,00007 Prozent der realen Strahlendosis aus, der die Schweizer Bevölkerung im Schnitt pro Jahr ausgesetzt ist.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Zwilag-Emissionen spielen bei der Strahlenbelastung in der Schweiz nicht die geringste Rolle. Rauchen, fliegen oder essen ist viel «gefährlicher» – geschweige denn, sich einer medizinischen Behandlung zu unterziehen oder Radon im Haus zu haben.
Die von der SES und anderen Atomkritikern geschürte falsche Angst wegen der Strahlung aus radioaktiven Abfällen entpuppt sich bereits bei einer Ist-Analyse im Zwilag als völlig gegenstandslos. Weil mit einem Tiefenlager die radioaktive Abschirmung aber verbessert wird, sind die Ängste der Atomgegner noch viel weniger stichhaltig – zumal sich die Situation sogar noch laufend verbessert, weil die Strahlenbelastung der Abfälle mit dem radioaktiven Zerfall ständig abnimmt.
Weitere Argumente gegen die haltlosen Behauptungen der SES wären:
1. Dass neue KKWs der 3. und 4. Generation bestehende radioaktive Abfälle wiederverwerten können, um daraus elektrische (und andere) Energie zu gewinnen. Gemäss Schätzungen von Kernphysikern und Nuklearingenieuren würden die im Zwilag gelagerten „Abfälle“ ausreichen, um während ca. 1’000 (Eintausend!) Jahren Strom für die ganze Schweiz zu produzieren (wurde anlässlich des Vortragsabends der Naturforschenden Gesellschaft Graubünden am 9. Februar 2023 in Chur von den Vortragenden, u.a. von Dipl. Ing. Laura Perez, KKW Gösgen, bestätigt).
2. Dass der Abfall der KKWs der 3. und 4. Generation Halbwertszeiten von wenigen hundert Jahren aufweisen und nicht „tausende“ von Jahren!
3. Dass als Nebenprodukt spezifischer Technologien dieser KKW-Generationen Wasserstoff entsteht, mit welchem man de gesamte Motorfahrzeugflotte der Schweiz betreiben könnte!
Auch das sind sehr wichtige Zusatzinformationen: vielen Dank!
Dies ist ein sehr interessanter, wichtiger und gut verständlicher Beitrag von Prof. Martin Schlumpf. Professor Schlumpf verwendet in seinem Beitrag die Einheit Sievert (Sv), respektive Millisievert (mSv). Der interessierte Leser findet im Internet die Erklärungen zu den Einheiten Sievert (Sv) und Gray (Gy). Hier in kurzer Form eine Erklärung:
Die biologische Wirkung ionisierender Strahlung korreliert mit der absorbierten Dosis. Mit der Energiedosis D wird die Strahlendosis angegeben, die der vom Gewebe absorbierten Strahlungsenergie entspricht. Die Energiedosis D wird in der Einheit Gray (Gy) angegeben. 1 Gy = 1 Joule pro Kilogramm = 1 J/kg .
Je nach Strahlenart verursacht die gleiche absorbierte Energiedosis D jedoch eine unterschiedliche biologische Wirkung. Um die biologische Wirkung der Strahlung zu berücksichtigen, wird die Energiedosis D mit dem strahlenspezifischen Wichtungsfaktor WR multipliziert und als Äquivalentdosis H bezeichnet. Durch den dimensionslosen Faktor WR wird die Äquivalentdosis H zu einem biologischen Dosismass (im Gegensatz zur Energiedosis D, die eine rein physikalische Grösse ist). Deshalb wird für die Äquivalentdosis H auch eine andere Einheit verwendet, nämlich Sievert (Sv), resp. Millisievert (mSv).
Vielen Dank für diese sehr instruktiven Ergänzungen!