Homo Sapiens Politik

Corona-Brief an den Bundesrat

Muendige Buerger 799x575

Lieber Herr Bundesrat Berset

Die Botschaft, die Sie an der letzten Corona-Medienkonferenz vom 19. März übermittelt haben, ist ernüchternd und enttäuschend. Lassen Sie mich dazu einige Fragen stellen.

1) Warum geben Sie den Fallzahlen so viel Gewicht?

Wenn Sie sagen, die Zahlen gehen in die falsche Richtung, lassen Sie unerwähnt, dass nicht nur die laborbestätigten Fälle leicht angestiegen sind, sondern auch die Anzahl Tests, was die Zahlen relativiert. Und Sie suggerieren, dass eine positiv getestete Person aktuell an einer Infektionen leidet. Für diese diagnostische Aussage ist der PCR-Test aber gar nicht gemacht.

2) Warum stützen Sie sich auf einseitige Lockerungskriterien ab?

Drei der vier Kriterien, die über Lockerungsmassnahmen entscheiden – Inzidenz, R-Wert und Positivitätsrate – sind rechnerisch direkt von den Fallzahlen abhängig. Wenn Sie also von steigenden Fällen reden und danach diese Kriterien ins Spiel bringen, reden Sie mehr oder weniger vom Gleichen. Ein eigenständiges Kriterium ist nur die Bettenbelegung in den Intensivstationen. Und die ist positiv, sogar nach einer substanziellen Reduktion der verfügbaren Betten seit Dezember. Es könnten also bei dringendem Bedarf noch viele Betten neu zur Verfügung gestellt werden.

3) Warum berücksichtigen Sie die Sterblichkeit nicht?

Das Ausmass einer Pandemie wird durch die Zahl der Todesfälle beschrieben. Da die Statistik mit den Todesfällen «an oder mit Corona» aber umstritten ist, sollte der Vergleich der Sterblichkeit im Vordergrund stehen, also die Sicht auf sämtliche Todesfälle. Da Sie dieses Thema nicht einmal erwähnt haben, muss an das Wichtigste erinnert werden. Seit Oktober 2020 hatten wir eine gut dreimonatige Übersterblichkeit, die ausserordentlich hoch war. Zum weitaus grössten Teil waren aber nur die Über-80-Jährigen betroffen, und seit Mitte Januar ist diese Welle zu Ende. Zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise aber waren die Jungen und die werktätige Bevölkerung von der Übersterblichkeit betroffen!

4) Warum bringen Sie die schleppende Impfaktion als Argument gegen die Lockerung?

Es mutet irritierend an, wenn Sie als Chef der Gesundheitsbehörde, der dafür verantwortlich ist, dass wir nicht das Israel-Tempo beim Impfen haben, aus diesem Versagen einen Grund für Massnahmen ableiten, die bei einem Grossteil der Bevölkerung gravierende Folgen hat.

5) Warum haben Sie Angst vor der Eigenverantwortung mündiger Bürgerinnen?

Ist es staatspolitisch in unserer direkten Demokratie nicht problematisch, wenn der Bundesrat bei seiner Corona-Strategie davon ausgeht, dass wir Bürger und Bürgerinnen nicht in der Lage sind, uns individuell nach den allgemeinen Schutzregeln der Pandemie zu verhalten? Wie können Sie zum Beispiel allen Kulturschaffenden generell verbieten, tätig zu sein, auch wenn diese in vielen Einzelfällen imstande wären, die Regeln einzuhalten? Analoge Beispiele gäbe es zuhauf. Warum greifen Sie zum undifferenzierten Holzhammer?

6) Warum haben die Jungen und Arbeitstätigen bei Ihnen so wenig Gewicht?

Dieses Ungleichgewicht treibt mich am meisten um: Gravierend – bis hin zum Tode – gefährdet und betroffen sind nur die Über-70-Jährigen, ihre einschränkenden Massnahmen belasten aber alle jüngeren Jahrgänge in weit grösserem Ausmass. Und sie werden in Zukunft noch Hypotheken schaffen, die längerfristig auch wieder die heute kaum Betroffenen bezahlen müssen. In Anbetracht der ungerechten finanziellen Umverteilung von Jung zu Alt, die bereits heute in der Altersvorsorge mehr und mehr um sich greift, halte ich diese zusätzliche Belastung im Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt für unverantwortlich.

Und übrigens: Haben Sie sich eigentlich vor der letzten Bundesratssitzung in einer Apotheke testen lassen? Sie nötigen uns ja auch zu diesem Gang vor privaten Treffen.

In der Hoffnung auf einige Korrekturen Ihrer Corona-Politik, verbleibe ich mit besten Grüssen

Dieser Text ist in der Kolumne „Was mich beschäftigt“ der Regionalzeitung „Die Botschaft“ am 31. März 2021, sowie im Blog des Carnot-Cournot-Netzwerks erschienen

2 Kommentare zu “Corona-Brief an den Bundesrat

  1. Kurt Schindler
    Kurt Schindler

    Vielen Dank für Ihren hervorragenden und so klugen Artikel! Ihr Wort in Gottes Ohr, oder zumindest in dasjenige von Herrn Berset!

  2. Anita Keller

    Grossartig! Vielen Dank Herr Schlumpf – für diesen differenzierten Brief, der wahrscheinlich den meisten von uns aus dem Herzen spricht – und hoffentlich ANKOMMT!

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