Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 150“ im Online-Nebelspalter vom 19. Mai 2025 zu lesen.
Wie viel Strom brauchen wir im Jahr 2050? Normalerweise beschäftige ich mich nicht mit einer so spekulativen Frage. Für die Fortsetzung meiner Reihe «Unausgegorene Energiewende» ist ihre Beantwortung aber unumgänglich, denn die Schweiz will ja bis 2050 klimaneutral sein. Und weil eine solche Dekarbonisierung bedeutet, dass wir unser ganzes Energiesystem praktisch vollständig elektrifizieren müssen, versuche ich hier, die entsprechenden Auswirkungen auf unseren Stromverbrauch bis 2050 zu quantifizieren.
Was wichtig ist:
– 2050 werden wir in der Schweiz mindestens 27 Terawattstunden mehr Strom verbrauchen als jetzt – das ist ein Plus von 45 Prozent.
– Am stärksten verantwortlich für diese Zunahme ist die Mobilität, vor dem Wärmebereich und einem allgemeinen Wirtschaftswachstum.
– Wegen zu grossen Unwägbarkeiten ist die Umstellung fossil betriebener Industrieprozesse auf elektrische Anwendungen in dieser Rechnung allerdings nicht berücksichtigt.
Konservative Schätzungen
Bei den folgenden Abschätzungen des zusätzlichen jährlichen Strombedarfs der Schweiz bis 2050 geht es um Grössenordnungen, nicht um präzise Zahlen. Dabei bemühe ich mich, möglichst konservative Annahmen zu treffen. Das hat zur Folge, dass meine Zahlen den zukünftigen Mehrbedarf an Strom ziemlich sicher unter- als überschätzen. Zudem verstehe ich diese Kolumne als Anregung für eine kritische Auseinandersetzung mit meinem Vorschlag: Sachdienliche Anregungen und Korrekturen nehme ich gerne zur Kenntnis.
Unsere geplante Energietransformation zu Netto-Null-CO2 findet in vier Bereichen statt:
- Elektrifizierung der Fahrzeuge (Mobilität),
- Umrüstung der Heizungen auf Wärmepumpen (Wärme),
- Wirtschaftliche und demografische Entwicklungen (Wachstum),
- Elektrifizierung von Industrieprozessen (Industrie).
Die folgende Grafik zeigt den Mehrverbrauch an Strom in den drei ersten Bereichen im Jahr 2050 unter möglichst günstigen Bedingungen. Wie sich eine vollständige Umstellung heutiger energieintensiver Industrieprozesse auf fossiler Basis zu CO2-freien Energieträgern auf das Stromsystem auswirken wird, kann ich noch nicht realistisch abschätzen. Deshalb enthält die Grafik nur Angaben zum zusätzlichen Strom, der in den ersten drei Bereichen Mobilität, Wärme und Wachstum anfällt:

Tiefer Verbrauch als Ausgangspunkt
Ausgangspunkt für die Berechnungen war der aktuelle Stromverbrauch. Das letzte erfasste Jahr in der «Schweizerischen Elektrizitätsstatistik» ist 2023 (siehe hier): Der Landesverbrauch in diesem Jahr wird mit 60,3 Terawattstunden (TWh) angegeben. Das ist seit 2003 der tiefste Verbrauchswert (ohne das Coronajahr 2020): 60 TWh als Status quo stellt also einen sehr tiefen Ausgangswert dar.
Fünf Millionen Fahrzeuge fahren elektrisch
Wie kommen die in der Grafik angegebenen 12 TWh Mehrstrom bei der Mobilität zustande? In der Schweiz gab es Ende 2024 rund 6,5 Millionen motorisierte Strassenfahrzeuge. Davon waren 4,8 Millionen Personenwagen. Ich gehe davon aus, dass bis 2050 der Gesamtbestand an Motorfahrzeugen auf fünf Millionen sinkt, und dass dann alle elektrisch fahren. Bei einer Fahrleistung von 12’000 Kilometern pro Jahr und einem Stromverbrauch von 20 kWh pro 100 Kilometer ergibt sich der angegebene Mehrverbrauch an Strom von 12 TWh.
Bisher 64 TWh Wärmebedarf
Bei den Gebäudeheizungen gehe ich vom bisherigen fossilen Wärmebedarf aus. Dieser setzt sich in der «Schweizerischen Gesamtenergiestatistik» (siehe hier) aus den Komponenten Erdölbrennstoffe, Gas und Kohle zusammen. Dabei machen die Erdölbrennstoffe und das Gas je rund die Hälfte aus, die Kohle hat nur einen minimalen Anteil. Im 10-jährigen Mittel beträgt dieser Wärmebedarf 64 TWh.
Optimistische Sanierungsrate der Gebäude
Nun gehen wir davon aus, dass sich dieser Energiebedarf zum Heizen durch das Isolieren von Gebäuden stark verringern lässt. Laut Raiffeisen-Bank (siehe hier) werden in der Schweiz pro Jahr etwa ein Prozent der sanierungsbedürftigen Gebäude renoviert. Bei einem Gesamtbestand von rund 1,8 Millionen Häusern in der Schweiz würde es 100 Jahre dauern, bis alle Häuser, die vor 1981 gebaut wurden, saniert wären. In den 27 Jahren bis 2050 wäre also nur ein gutes Viertel davon optimal isoliert. Trotzdem gehe ich sehr optimistisch davon aus, dass der Wärmebedarf bis 2050 sogar um die Hälfe abnimmt.
Die Raumwärme der verbleibenden 32 TWh wird 2050 ausschliesslich durch Wärmepumpen erzeugt. Für die Berechnung des Strombedarfs dieser Pumpen braucht man die sogenannte Leistungszahl (COP, Coefficient of Performance). Diese gibt an, wie viel Wärme aus einer eingespeisten elektrischen Leistung bei verschiedenen Temperaturen erzeugt wird. Ein COP von 4 bedeutet, dass viermal mehr Wärmeleistung erzeugt als Strom verbraucht wird. Die nächste Grafik aus ResearchGate (siehe hier) zeigt die COPs von Luft-Wasser-Wärmepumpen:

Optimistischer Wirkungsgrad von Wärmepumpen
Dabei gibt die blaue Kurve die Werte für eine Bodenheizung (35° Celsius) und die rote Kurve die Werte für eine Heizung mit Radiatoren (50° Celsius) an. Bei angenommenen Aussentemperaturen zwischen minus und plus zehn Grad liegt der mittlere COP bei Bodenheizungen bei 3,4 und bei Radiatoren bei 2,8. Wiederum sehr optimistisch verwende ich einen Durchschnittswert von 3,5 (je höher diese Zahl, desto effizienter ist die Heizung).
Somit müssen wir die 32 TWh, die nach einer optimistisch zugrundegelegten Sanierungskampagne noch benötigt werden, jetzt noch mit einem COP von 3,5 teilen: Auf diese Weise kommen die in der Grafik angegebenen neun TWh zustande.
Schweizer Bevölkerung wächst bis 2050 auf 10,4 Millionen
Und schliesslich müssen noch das Bevölkerungswachstum sowie neue Anwendungen berücksichtigt werden, die bis 2050 zu erwarten sind. Dies schliesst auch den Mehrverbrauch an Strom ein, der durch eine zunehmende Digitalisierung nötig wird: also den Zubau von neuen Datencentern etc. Das Bundesamt für Statistik nimmt in einem Referenzszenario an, dass die Schweizer Bevölkerung bis 2050 auf 10,4 Millionen Einwohner wachsen wird (siehe hier). Das entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 0,64 Prozent.
Ein Prozent Wirtschaftswachstum bis 2050
In den «Energieperspektiven 2050+» des Bundes gehen die Forscher davon aus, dass die Schweizer Wirtschaft bis 2050 pro Jahr mit einem Prozent wachsen wird (siehe hier). Weil Wirtschaftswachstum und Bevölkerungswachstum aber nicht eins zu eins auf das Energiewachstum übertragbar sind, nehme ich beim Wachstum des jährlichen Stromverbrauchs nur 0,35 Prozent an: Das führt zu einem Plus von sechs Terawattstunden bis 2050.
Bis 2050 mindestens 27 TWh mehr Strom
Eine Zunahme um zwölf TWh für die Mobilität, eine Zunahme um neun TWh für die Wärme und eine Zunahme um sechs TWh für das Wachstum ergeben eine Gesamtzunahme am Stromverbrauch von 27 TWh zwischen 2023 und 2050. Der Landesverbrauch an Strom wird dann 87 TWh betragen. Weil dabei die Elektrifizierung von Industrieprozessen aber nicht mitgerechnet ist, und weil ich überall sehr konservative, sprich optimistische Annahmen getroffen habe, ist das eine Zunahme, mit der im Minimum gerechnet werden muss – der Mehrbedarf könnte durchaus noch grösser sein.
Zum Vergleich: Das Basis-Szenario in den «Energieperspektiven 2050+» des Bundesamtes für Energie (siehe hier) geht für das Jahr 2050 von einem Endenergieverbrauch an Elektrizität von 84 TWh aus. Inklusive Verluste ergibt das für den Landesverbrauch (die Zahl, die ich verwendet habe) einen etwas grösseren Wert als meine 87 TWh. Es gibt aber auch Schätzungen, die bei über 100 TWh liegen.
Aufruf zum Kommentieren
Wie gesagt: Ich stelle meine Zahlen hier zur Diskussion. Was habe ich vergessen? Wo sind meine Annahmen aus welchen Gründen nicht richtig? Wo gibt es bessere Quellen, als diejenigen, die ich verwendet habe? Und vor allem: Wie lässt sich der Anteil der Industrieprozesse berechnen? Ich bedanke mich für alle Kommentare. In einer Woche zeige ich, wie viel Strom wir im Winter brauchen werden.
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Unausgegorene Energiewende
Mit der Annahme des Stromgesetzes hat die Schweiz letztes Jahr die Weichen für die Energiestrategie neu gestellt: Künftig soll ein grosser Teil der Elektrizität von Wind und Sonne kommen. Doch was bedeutet dieser Wechsel für die Stabilität des Stromsystems? Können wir künftig ohne neue Grosskraftwerke auskommen? Und schützen wir damit wirklich das Klima? In einer Serie beleuchtet Kolumnist Martin Schlumpf die Probleme und Grenzen der «Energiestrategie 2050» und zeigt, welche Lösungen es gäbe.
Bisher erschienen:
Bei der Energie hat die Schweiz Vieles richtig gemacht
Energieverbrauch der Welt: Ökologische Wende lässt auf sich warten
Ich schlage nochmals in dieselbe Kerbe, wie die Herren Krähenmann und Rüegg oben: die zunehmende Digitalisierung unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Der dadurch verursachte Mehrverbrauch an elektrischer Energie müsste m.E. separat betrachtet werden (neben den Rubriken „Mobilität“, „Wärme“ und „Wachstum“). Ich vermute, dass die in der Rubrik „Wachstum“ geschätzte Zunahme um 6 TWh den Bedarf für die zunehmende Digitalisierung nicht abzudecken vermag. Zur Erinnerung (und auch in Ergänzung zu den von Herrn Krähenmann genannten Zahlen): Heutige Datenzentren benötigen ungefähr gleich viel elektrische Energie, wie ein mittlere Schweizer Kleinstadt (z.B. Chur).
Gibt es Schätzungen zu Entwicklung der Digitalisierung in der Schweiz und dazu, wieviele zusätzliche Datenzentren dafür benötigt werden?
Aufgrund des Gesagten ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass Herrn Schlumpfs Schätzungen (besten Dank!) durchwegs erheblich unter der tatsächlichen Entwicklung liegen werden.
Was mir fehlt in diesen Zahlen ist die rasche Zunahme an Rechenzentren (z.B. für den Bedarf der künstlichen Intelligenz). Das RZ Vantage Data Centers I ZRH1 in Winterthur hat eine Anschlussleistung von 55 Megawatt. Das ist halb soviel wie die ganze Stadt Winterthur mit 110’000 Einwohnern benötigt.
In Zürich steht noch ein zweites RZ von Vantage mit 24 Megawatt.
Anders ausgedrückt (basierend auf den eher konservativen Zahlen, übrigens vielen Dank Herr Schlumpf!)
Aktuelle Strom Produktion/J: etwa 60 TWh
Strom Zuwachs bis 2050/J: + 27 TWh (eher 30-35TWh/J)
Abschalten der AKW/J: -20 TWh
Netto-Neubedarf/J: >+47 TWh
Das heisst, mehr als 2/3 der heutigen Gesamtproduktion der Schweiz sind neu, resp. zusätzlich zu produzieren.
Es soll mir einer der SOLAR- und WIND-Exegeten erklären, wie dies ohne Kernkraft zu erreichen wäre.
Ihre Zahlen sind zu korrigieren.
Aktuelle Landeserzeugung (brutto)/J: etwa 80 TWh (genau 80,498 TWh im 2024)
Abschalten der AKW/J: -23 TWh (genau 22,983 TWh im 2024)
Landesverbrauch (brutto)/J: 61 TWh (genau 61,295 TWh im 2024)
Endverbrauch (netto, d.h. ohne Verluste, ~7%)/J: 57 TWh (genau 57,006 TWh im 2024)
Endverbrauchzuwachs im 2050 nach Martin Schlumpf (netto): +27 TWh
Endverbrauch im 2050 (netto): 57 + 27 = 84 TWh
Landesverbrauch (brutto, d.h. mit Verluste, ~7%) im 2050: 90 TWh
Neubedarf bis 2050: 90 – (80 – 23) = +33 TWh
33 TWh zusätzlich? Das entspricht entweder fast drei neuen AKW (z.B. 3 EPR2 mit einer Gesamtleistung von nur 5 GWe), oder +38 GWp, d.h. +190-km2-PV-Anlagen, oder +19 GWp, d.h. +3’800 Windanlagen zu 5 MWp, oder … einer vernünftigen und annehmbaren Kombination der drei Technologien, um im Winter eine genügenden Versorgung zu sichern.
Herr Reyff: Ich nehme an, dass Sie sich fälschlicherweise an mich wenden, da sich meine Aussagen auf diejenigen von Herrn Schlumpf beziehen; zudem vermerke ich, dass der Stromzuwachs höher liegen dürfte (eher 30-35TWh/J) – was etwa ihren Annahmen entspricht.
Das gibt dann einen Zubau von 50-60TWh/J, etwas kleiner also, als die aktuelle Stromproduktion .
Es soll mir einer der SOLAR- und WIND-Exegeten erklären, wie dies ohne Kernkraft zu erreichen wäre.
Ich nehme an, dass die Folgen für die inländische Produktion des gesamten Stromes (inkl. die Problematiken Winter/Sommer, die wetterabhängigen Kapazitätsfaktoren der Erneuerbaren, die Ausserbetriebnahmen der bestehenden KKW, etc.) in einer nächsten Untersuchung aufgezeigt werden.
Es wäre höchste Zeit, dass der BR sich dazu effiziente Massnahmen, sprich neue KKW, überlegt und mit deren Planung sofort beginnt. Planen von neuen KKW, bzw. neben der Energiestrategie 2050+ einen Plan B in fortgeschrittener Planung zu haben, wäre eine staatspolitisch vorausschauende Vorsichtsmassnahme. Energiestrategien müssten/sollten grundsätzlich langfristig angelegt sein. Wind-/Wasser-/Solarexpress und hohe Subventionen können verlorene Zeit nicht wettmachen.
Wir vergessen die Roboter.
Grosse Stromfresser. In 10-20 Jahren werden wir eine Roboterinvasion erleben, in der Pflege (wer soll die vielen Alten pflegen? und in den Spitäler?), Landwirtschaft (noch viel Handarbeit), Bau (auch noch viel schwere körperliche Arbeit), Haushalt (wer hat noch Zeit dafür, und dann die alten Leute), Industrie.