Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 155“ im Online-Nebelspalter vom 7. Juli 2025 zu lesen.
In früheren Beiträgen habe ich gezeigt, dass die enorme Stromlücke im Winter 2050 weder mit zusätzlichen Solaranlagen, neuen Wasserkraftwerken, Batterien oder Wasserstoff allein gedeckt werden kann. Jetzt untersuche ich, ob das entweder mit den schon bestehenden und neuen Kernkraftwerken oder mit Stromerzeugung aus importiertem synthetischen Kraftstoff aus Pflanzenöl möglich ist.
Was wichtig ist:
– Mit Laufzeitenverlängerungen bei den Kernkraftwerken Gösgen und Leibstadt könnte im Winter 2050 38 Prozent der Stromlücke gedeckt werden.
– Zusammen mit drei neugebauten südkoreanischen Reaktoren APR-1400 wäre das Winterstromloch sogar mehr als gefüllt.
– Zur Deckung derselben Lücke mit synthetischem Biotreibstoff wäre eine 9000 Quadratkilometer grosse Palmölplantage in Äquatornähe sowie 120’000 Tonnen Wasserstoff erforderlich.
– Die 3,4 Milliarden Liter Synfuel müssten bei uns in sechs neugebauten Kombikraftwerken verstromt werden.
Eine Winterstromlücke von 17 Terawattstunden
Zur Erinnerung: Die Grösse der Winterstomlücke von 17 Terawattstunden (TWh) geht auf Berechnungen zurück, bei denen ich die Annahmen der «Energieperspektiven 2050+» des Bundes (siehe hier) realisiert habe. 17 TWh sind fast die Hälfte des Stroms, der im Winter 2050 voraussichtlich nachgefragt wird. Die Lücke gilt also im Jahr 2050 für ein Schweizer Stromsystem ohne Kernkraftwerke und mit einem Ausbau der Solaranlagen um das Vierfache gegenüber heute (siehe hier).
Überlegen wir uns zuerst, wie wir diese 17 TWh Strom im Winter (November bis Februar) mit Kernenergie erzeugen könnten. Das setzt natürlich eine Kursänderung der Schweizer Energiepolitik voraus, denn bis heute ist es in der Schweiz nicht möglich, neue Kernkraftwerke zu bauen. Im Folgenden gehe ich also davon aus, dass zum Beispiel die hängige Initiative «Blackout stoppen» (siehe hier) angenommen worden ist, mit der das Technologieverbot im Eneergiegesetz der Schweiz aufgehoben würde.
Laufzeitverlängerung bei neueren Schweizer Kernkraftwerken
Zuerst aber geht es darum, zu überlegen, wie lange die heute bestehenden Kernkraftwerke sicher weiter laufen könnten. Diese Frage hat Johannis Nöggerath, promovierter Kernenergiefachmann im Ruhestand, in meinem Buch «Atomkraft – Das Tabu» (siehe hier) fundiert beantwortet: Er kommt zum Schluss, dass Laufzeitverlängerungen bei den beiden neueren Kernkraftwerken Gösgen und Leibstadt bis zu 80 Jahren möglich wären, wenn sie auch zukünftig ständig dem Stand der Technik gemäss nachgerüstet werden.
Gösgen und Leibstadt stopfen 38 Prozent des Winterlochs
Um diese beiden Werke 2050 noch in Betrieb zu haben, müssten die Betriebsbewilligungen von Gösgen und Leibstadt zumindest bis dahin gültig bleiben: Gösgen wäre dann 71 und Leibstadt 66 Jahre in Betrieb. Das ist technisch wie gesagt möglich, aber ob es wirtschaftlich gehen wird, kann heute niemand sagen. Diese zwei Kernkraftwerke würden zusammengerechnet im Winter 2050 bei normalem Volllastbetrieb 6,4 TWh Strom liefern – das entspricht 38 Prozent der Winterlücke.
Dazu dreimal der südkoreanische Reaktor APR-1400
Die restlichen 10,6 TWh könnten zum Beispiel aus drei neugebauten Anlagen des Typus APR-1400 kommen. Dieser Reaktor wurde von der südkoreanischen Gesellschaft «Korea Electric Power Corporation» entwickelt und in Korea sowie in den Vereinigten Arabischen Emiraten gebaut. Das nächste Bild zeigt die vier in Betrieb stehenden APR-1400 in Barakah (VAE):

Drei dieser Reaktoren, die in Barakah mit einer Bauzeit von gut acht Jahren aufgestellt wurden, würden im Winter 12 TWh Strom liefern – mehr als genug also, um die Winterlücke bei uns im Jahr 2050 zusammen mit den noch laufenden KKW Gösgen und Leibstadt vollständig zu decken. Und dies notabene alles mit sehr geringem Flächenverbrauch, vergleichsweise wenig Materialaufwand und im Normalfall hoher Zuverlässigkeit.
Strom aus synthetischem Pflanzenöl
Als zweite technologische Möglichkeit, die Winterlücke 2050 zu füllen, bespreche ich die Verwendung von synthetischem Pflanzenöl als Brennstoff für die Stromerzeugung in einem entsprechenden Kraftwerk. Diese Technologie hat mir Andreas Züttel vorgeschlagen, Professor für Physikalische Chemie an der Eidgenössisch Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). In der nächsten Grafik habe ich aufgrund seiner Angaben die dafür notwendige Prozesskette zusammengestellt und mit den entsprechenden Mengenangaben versehen, die zur erforderlichen Winterstromproduktion von 17 TWh führt:

Palmölplantage von 9000 Quadratkilometern Fläche
Die effizienteste Methode, synthetisches Pflanzenöl herzustellen, verwendet Palmöl als Ausgangsstoff. Wie die Grafik zeigt, ist für die in unserem Beispiel benötigte Strommenge von 17 TWh eine Palmölplantage (grün links) von 9000 Quadratkilometern Fläche erforderlich. Das entspricht einer Fläche, die etwas grösser ist als die Kantone Graubünden und Zürich zusammengenommen. Solche Plantagen sind nur in äquatornahen Ländern möglich. Bis heute stammt mehr als die Hälfte des Palmöls aus Indonesien.
3,4 Milliarden Liter Synfuel
Aus den 17 Millionen Tonnen geerntete Ölfrüchte wird in einer Ölmühle Palmöl (grüner Tropfen) erzeugt. Dieses bildet den Ausgangsstoff für die sogenannte Hydrierungstechnologie, bei der unter Beifügung von 120’000 Tonnen Wasserstoff durch Spaltungs- und Destillationsprozesse synthetisches Öl (schwarzer Tropfen) erzeugt wird. Die so gewonnenen 3,4 Milliarden Liter synthetisches Öl (Synfuel) werden in Öltankern nach Europa verschifft und via Lastwagen zu uns gefahren.
Sechs neugebaute grosse Gas-Kombikraftwerke
Dort werden sie in bereits bestehenden Öltanks gelagert, bevor sie im Winter in sechs neugebauten Gas-Kombikraftwerken von je einem Gigawatt Leistung zur Stromerzeugung verfeuert werden. In der Grafik nicht enthalten ist der Prozess der Herstellung der benötigten 120’000 Tonnen Wasserstoff, die hier verwendet werden müssen, da ich diese Technologie schon in einem früheren Beitrag beschrieben habe (siehe hier). Selbstverständlich müsste die entsprechende Infrastruktur mit Photovoltaik-Anlagen, Batteriespeicher und Elektrolyseur in den gesamten Aufwand für diese Technologie hineingerechnet werden.
Fazit: Aus technischer Sicht könnten wir mit bestehenden und/oder neuen Kernkraftwerken den fehlenden Strom im Winter 2050 autark aus eigener Produktion erzeugen – ob das politisch geht, wird sich zeigen müssen. Bei der technisch ebenfalls machbaren Variante mit synthetischem Biotreibstoff müsste neben den sechs Kombikraftwerke in der Schweiz eine neue Infrastruktur im Ausland aufgebaut werden, von der wir abhängig wären.
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Unausgegorene Energiewende
Mit der Annahme des Stromgesetzes hat die Schweiz letztes Jahr die Weichen für die Energiestrategie neu gestellt: Künftig soll ein grosser Teil der Elektrizität von Wind und Sonne kommen. Doch was bedeutet dieser Wechsel für die Stabilität des Stromsystems? Können wir künftig ohne neue Grosskraftwerke auskommen? Und schützen wir damit wirklich das Klima? In einer Serie beleuchtet Kolumnist Martin Schlumpf die Probleme und Grenzen der «Energiestrategie 2050» und zeigt, welche Lösungen es gäbe.
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Bei der Energie hat die Schweiz Vieles richtig gemacht
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