Homo Sapiens Politik

Bildung ist unsere wertvollste Ressource

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Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 132“ im Online-Nebelspalter vom 18. November 2024 zu lesen.

Als der schwedische Schriftsteller und Journalist Lasse Berg 2010 die Familie des indischen Bauern Bhagant zum zweiten Mal besuchte, war er überrascht: Alle Enkelkinder von Bhagant gingen nun zur Schule, benutzten Handys, und ein Mädchen wollte Computertechnikerin werden. Als Berg die Famile 1977 besucht hatte, war niemand aus der Familie je zur Schule gegangen: Alle, auch die Kinder, mussten täglich hart dafür arbeiten, dass die Familie überleben konnte. Innerhalb von nur zwei Generationen hatte sich das grundlegend geändert: Aus bettelarmen Analphabeten waren selbstbewusste Menschen mit Zukunftsoptionen geworden.

Was wichtig ist:

– Vor 200 Jahren konnte erst jeder achte Mensch lesen und schreiben. Bis heute hat sich das Verhältnis umgekehrt: Nur noch einer von acht ist Analphabet.
– Ein Grossteil der Menschen, die nicht lesen können, lebt in armen Ländern Zentralafrikas.
– Kinder aus Ländern mit hohen Einkommen gehen rund elf Jahre in die Schule, in Ländern mit niedrigen Einkommen sind es nur etwa vier Jahre.

Die hoffnungsvolle Geschichte des Bauern Bhagant, der in Indien zur untersten Kaste der Dalit gehörte, erzählt Johan Norberg in seinem Buch «Progress» (siehe hier). Die Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die fantastische Entwicklung der Verbreitung von Bildung und Wissen, die wir in den letzten 200 Jahren erlebt haben: Immer mehr Kinder können eine Schule besuchen und lernen dort zumindest Lesen und Schreiben.

Im Folgenden stütze ich mich auf Artikel und Grafiken der Webseite «Our World in Data», insbesondere auf den Hauptbeitrag «Global Education» (siehe hier). Die Daten für einen historischen Langzeitvergleich ab 1820 stammen aus der Untersuchung «How was Life?» von Von Zanden J. et al, welche die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) 2014 herausgegeben hat (siehe hier).

Zahl der Schuljahre und Lesefähigkeit sind entscheidend

Um Bildungsfortschritte messen zu können, verwenden die Forscher zwei Kriterien: einerseits die Zahl der Jahre, die Kinder in der Schule verbracht haben, und andererseits die Alphabetisierungsrate, also der Anteil der Erwachsenen, die lesen können. Das Bild der Entwicklung anhand dieser beiden Kriterien ist in den letzten 200 Jahren ziemlich einheitlich: Ausgehend von einer Situation, in der nur wenige privilegierte Menschen Zugang zu Bildung hatten, entwickelt sich die Welt immer mehr zu einem Ort, an dem weitaus die meisten Menschen lesen und schreiben können.

Ich stelle diese Entwicklung hier anhand der Alphabetisierungsrate dar. Die nächste Grafik zeigt den globalen Anteil der Erwachsenen über 15 Jahre, die lesen und schreiben können (siehe hier):

Lesefähigkeit Seit1820
Quelle: Our World in Data

Die braune Fläche (Illiterate) gibt an, wie viele Prozente der Gesamtbevölkerung Analphabeten sind, während die grüne Fläche (Literate) den Anteil der Menschen zeigt, die lesen und schreiben können. Natürlich beruhen die Zahlen dieser Grafik auf Schätzungen, die, je weiter zurück wir schauen, desto ungenauer werden. Das zeigt sich auch in der zeitlichen Auflösung: Nach 1820 gibt es die nächste Schätzung erst für 1870. Danach erfolgen die Einträge alle zehn Jahre bis ins Jahr 2000. Ab 2006 gibt es dann präzisere Zahlen im Jahresrhythmus. 

Der Anteil der Analphabeten sank seit 1820 auf ein Siebtel

Über die ganzen 200 Jahre hinweg stieg der Anteil der erwachsenen Menschen, die lesen und schreiben können, um das Siebenfache von 12 auf 87 Prozent: 1820 war es im Schnitt also einer von acht, der des Lesens kundig war, 2022 waren es sieben von acht. Die Entwicklung verlief aber nicht gradlinig: Einen Einbruch gab es 1950 nach dem zweiten Weltkrieg. Deutliche Abflachungen waren 1930 (Wirtschaftskrise) und vor allem 1980 (Ölkrisen) zu verzeichnen. Besonders stark verbreitete sich die Lesefähigkeit aber zwischen 1950 (36 Prozent) und 2000 (81 Prozent).

In zentralafrikanischen Ländern leben noch immer viele Analphabeten

Die verbleibenden 13 Prozent der Weltbevölkerung, die heute noch immer nicht lesen und schreiben können, sind aber nicht gleichmässig auf alle Länder verteilt. Die nächste Grafik zeigt diese sogenannte Alphabetisierungsrate (Literacy rate) für alle Länder im Jahr 2018 – dem letzten Jahr, für das Daten fast aller Länder zur Verfügung stehen (siehe hier):

Welt Alphabetisierung 2018
Quelle: Our World in Data

Alle dunkelblau eingefärbten Länder haben eine sehr hohe Alphabetisierungsrate von über 95 Prozent. Sie decken den grössten Teil der Welt ab. Auffällig schlechter steht es mit der Fähigkeit zu lesen in Südasien und vor allem in Zentralafrika: In Asien liegt Afghanistan mit 37 Prozent vor Pakistan mit 57 Prozent und Indien mit 72 Prozent. Die fünf zentralafrikanischen Länder mit der kleinsten Zahl an lesefähigen Menschen sind: Niger (19 Prozent), Tschad (22 Prozent), Mali und Südsudan (35 Prozent), sowie die Zentralafrikanische Republik (37 Prozent).

In den Niederlanden hatte es schon 1750 weniger als ein Fünftel Analphabeten

Aber nicht nur geografisch gesehen gibt es noch immer grosse Unterschiede, auch historisch hat sich die Alphabetisierung verschieden rasch durchgesetzt. Spitzenreiter waren die Niederlande, in denen schon 1750 geschätzte 85 Prozent der Einwohner lesen konnten. Gut ein Jahrhundert später folgte das Vereinigte Königreich mit 76 Prozent. Das waren aber seltene Ausnahmen. Den meisten Ländern gelang es erst im 19. Jahrhundert ihren Einwohnern mehr Bildung zu ermöglichen. Über die Schweiz gibt es keine historischen Zahlen.

Die Alphabetisierung wird durch Armut und Krieg beeinträchtigt

Die beiden wichtigsten Faktoren, welche die Alphabetisierung behindern, sind Armut und Krieg. Aus der folgenden Grafik kann man die Abhängigkeit der Bildungschancen von der wirtschaftlichen Situation herauslesen. Die Grafik zeigt das schulische Bildungsniveau der einzelnen Länder im Vergleich mit deren Einkommensniveaus im Jahr 2020 (siehe hier):

Wieviele Schuljahre Pro Land
Quelle: Our World in Data

Wie aber wird das schulische Bildungsniveau (Learning adjusted years of schooling) ermittelt? Forscher der Weltbank haben anhand von schulischen Testresultaten die Zahl der offiziellen Schuljahre gewichtet (siehe hier): Bei schlechten Testresultaten wurden die «lerngewichteten Schuljahre» verkürzt und umgekehrt. Mit anderen Worten: Die Zahl der in der Grafik gezeigten Schuljahre (die Höhe der Länderbalken auf der y-Achse) ist das Resultat einer Gewichtung der Länge der regulären Ausbildung sowie deren Qualität.

Zusätzlich sind die Länder nach der von der Weltbank benutzten Einteilung in Einkommensklassen farblich gekennzeichnet: von hohen Einkommen (blau) über zwei Stufen mittlerer Einkommen (dunkelgrün und hellblau) bis zu tiefen Einkommen (rosa). Und schliesslich drückt die Breite der Balken aus, wie viele Menschen unter 25 Jahren in diesem Land leben.

Riesige Bildungsdifferenzen zwischen Singapur und Liberia

Die Grafik zeigt eindrücklich, wie Länder mit hohen Einkommen (blau) ein hohes Bildungsniveau ermöglichen, das seinerseits wiederum den Wohlstand befördert: Spitzenreiter ganz links ist Singapur mit 12,8 gewichteten Schuljahren vor Hongkong, Finnland und Japan. Die Schweiz liegt mit 10,9 gleichauf mit Österreich und Russland – noch vor den USA mit 10,6.

Am rechten Ende der Grafik findet man die einkommensschwachen Länder mit gewichteten Schuljahren unter 5,0. Und ganz am Schluss auf nochmals tieferem Niveau sind die gleichen zentralafrikanischen Länder versammelt, die in Grafik 2 mit der tiefsten Alphabetisierungsrate auffielen: Tschad (2,8), Niger (2,7), Mali (2,6) und Südsudan (2,5) – jetzt aber mit dem Schlusslicht Liberia an der zentralafrikanischen Westküste mit 2,2 gewichteten Schuljahren.

Indien hat viel mehr bildungsfähige Jugendliche als China

Interessant ist ausserdem der Vergleich zwischen den beiden Ländern mit der grössten Zahl an Jugendlichen: China weist dabei mit 9,3 Jahren das bessere Bildungsniveau auf als Indien mit 7,1, hat aber mit 418 Millionen Jugendlichen eine viel kleinere Nachwuchsressource als Indien mit 627 Millionen: In Indien gibt es also noch grosses schulisches Potenzial.

Fazit: Bildung ist wohl die wertvollste Ressource, die wir haben. Nur wer lesen und schreiben (und rechnen) kann, verfügt über die nötigen Voraussetzungen für mehr Wohlstand und Lebensglück.


200 Jahre Fortschrittsgeschichte

1820 lebte eine Milliarde Menschen in grosser Armut. Krieg, Hunger und Tod waren allgegenwärtig. Dann setzte eine beispiellose Entwicklung ein. Heute wird die Erde von acht Milliarden Menschen bevölkert. Die Wirtschaftsleistung ist um das Hundertfache gestiegen, und die Menschen leben im Schnitt so lange wie nie zuvor.
Ich gehe in einer Serie einigen zentralen Aspekten dieser Fortschrittsgeschichte nach – wie immer illustriert durch einschlägige Grafiken.

Bisher erschienen:
Reichtum und Wohlstand dank wirtschaftlichem Wachstum: siehe hier
Extreme Armut ist stark zurückgegangen: siehe hier
Massiver Rückgang der Kindersterblichkeit: siehe hier
Genug zu essen für alle: siehe hier
Ungeplantes Glück: Wir werden immer älter: siehe hier
Impfen rettet Millionen von Menschenleben: siehe hier
Immer weniger Kriegstote seit dem Zweiten Weltkrieg: siehe hier
Immerhin die Hälfte der Länder sind Demokratien: siehe hier

2 Kommentare zu “Bildung ist unsere wertvollste Ressource

  1. Arturo Romer
    Arturo Romer

    Ein ausgezeichneter Beitrag von Prof. Martin Schlumpf. Er behandelt hier ein fundamentales Problem. Tatsächlich ist die Bildung/Ausbildung die wertvollste Ressource unserer Existenz. Leider haben z.B. die Organisatoren der COP29 in Baku scheinbar kein Interesse an dieser Tatsache. Sie sehen nur den Klimawandel und verschwenden zu dessen Bekämpfung auf sehr ineffiziente Art unglaubliche Summen Geld. Die Pariser 1.5-Grad-Grenze ist unrealistisch und mit Sicherheit unerreichbar. Ich habe seit 23 Jahren eine grosse persönliche Erfahrung im Rahmen der Alphabetisierung von jungen Menschen. In einem der ärmsten Länder Afrikas habe ich im “one-man-system” bisher mehr als 20 komplett ausgerüstete Primarschulen gebaut. Viele Tausend Kinder lernten/lernen lesen, schreiben und rechnen. Sie sind glücklich!

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