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Überschätzte AKW-Strahlung

Die Angst, radioaktive Strahlung aus Kernkraftwerken oder deren Abfällen könnte uns schaden, entbehrt jeder Grundlage. Wenn schon, müssten wir uns um die Strahlung von Radon und medizinischen Anwendungen kümmern.

Originalbeitrag «Schlumpfs Grafik, Folge 26» im Online-Nebelspalter vom 10. Januar 2022.

Viele Menschen fürchten sich vor Radioaktivität, weil sie weder gesehen, noch gehört, noch gefühlt werden kann. Das ist verständlich. Und doch ist es zu relativieren, weil dasselbe auch bei anderen gefährlichen Stoffen gilt, vor allem aber, weil radioaktive Strahlung sehr einfach gemessen werden kann. Mit einem Geigerzähler um die hundert Franken können Sie die Strahlung selber messen.

Und diese Strahlung ist überall. Sie kommt aus dem Boden, dem All, der Luft, aus Baumaterialen, Lebensmitteln, unsern Körpern und technischen Einrichtungen: In allem steckt Radioaktivität. Und weil sie gut messbar ist, haben wir eine umfassende staatliche Kontrolle über die Strahlenexposition der Schweizer Bevölkerung. Dafür zuständig ist im Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Abteilung Strahlenschutz.

Die Radonbelastung ist dominierend

Jedes Jahr wird dort ein zusammenfassender Bericht «Strahlenschutz und Überwachung der Radioaktivität in der Schweiz» publiziert (siehe hier), aus dem die Zusammensetzung der effektiven Strahlendosis pro Jahr und Einwohner in der Schweiz herauszulesen ist. Die folgende Grafik aus dem neusten Bericht 2020 zeigt die detaillierten Resultate.

(Click auf Grafik vergrössert diese) In der üblichen Masseinheit Millisievert (mSv) sind hier die durchschnittlichen Beiträge sämtlicher Komponenten einer Jahresgesamtdosis pro Einwohner in der Schweiz aufgeführt, die zu einem Total von knapp 6 mSv pro Jahr führen. Rasch sieht man, dass vor allem zwei Einflussbereiche dominierend sind: die Radon-Belastung in Wohnräumen (Mitte, grau), die 56 Prozent ausmacht, und die Medizinische Bildgebung (rechts, grün) mit 25 Prozent.

Atomkraftwerke sind vernachlässigbar

Das verbleibende Fünftel einer solchen Jahresdosis setzt sich aus der natürlichen externen Strahlung aus dem Boden (terrestrisch, gelb) und dem All (kosmisch, schwarz) sowie der Strahlung in unserem Körper durch eingenommene Lebensmitteln (rosa und pink) zusammen. Und schliesslich haben wir noch die fast nicht mehr erkennbaren Einflüsse durch Flugreisen (die kosmische Strahlung nimmt in der Höhe zu), durch starkes Rauchen und durch die Strahlung aus Industrie, Forschung und Altlasten.

Wo aber bleiben die Atomkraftwerke? Sie sind in diesen letzten 0,02 mSv enthalten. Konkret beträgt die Strahlung in der Nähe eines Kernkraftwerks um die 0,002 mSv pro Jahr, das ist weniger als ein Tausendstel der Gesamtdosis. Entgegen allen Ängsten in der Bevölkerung spielen die Kernkraftwerke bei der Strahlenbelastung keine Rolle.

Natürliche Strahlung variiert stark

Die hier gezeigte Durchschnittsbetrachtung hat aber ihre Tücken. Gerade die Radon-Belastung variiert in der Schweiz stark: In den Alpen und im Jura ist sie generell wesentlich grösser als im Mittelland. Und selbstverständlich ist auch der Einfluss durch medizinische Anwendungen sehr unterschiedlich und erfolgt in der Regel erst im Alter. So sind im BAG-Bericht verschiedene Fälle beschrieben, deren Jahresdosis zwischen 2 und 22 mSv pro Jahr liegen.  

Angesichts dieser Tatsache ist es unverständlich, dass in unserer Gesetzgebung ein Dosisgrenzwert für die allgemeine Bevölkerung von 1 mSv pro Jahr festgelegt wurde (ich habe den Wert in der BAG-Grafik selber blau eingetragen). Würde man diesen ernst nehmen, müsste man ja grosse Teile der ganze Schweiz evakuieren. Das BAG versucht diesen Widerspruch damit zu erklären, dass dieser Grenzwert nur für die künstliche Strahlenexposition aus dem Industriebereich gelte, also den 0,02 mSv. Aber auch das ergibt keinen Sinn, denn keine Zelle eines Lebewesens fragt danach, ob die Strahlung natürlichen oder künstlichen Ursprungs ist.

Langfristige Schäden sind stark umstritten

Natürlich kann radioaktive Strahlung auch grosse Schäden anrichten. Kaum ein anderes Gebiet im Gesundheitswesen ist aber so gut erforscht wie die Radioaktivität. Eine zentrale Rolle spielen dabei die umfangreichen Untersuchungen bei den Überlebenden des Atombombenabwurfs 1945 in Hiroshima und Nagasaki. Unbestritten ist heute, dass erst ab einer einmaligen Dosis (Schockdosis) von 500 bis 1’000 mSv mit einer messbaren Verkürzung der Restlebenszeit zu rechnen ist, und dass um 5’000 mSv bei etwa der Hälfte der Menschen der Tod eintritt.

Sehr umstritten sind aber die langfristigen Effekte, wenn also solche Dosen über mehrere Jahrzehnte verteilt einwirken. Es ist zwar klar, dass dann die Reparatur- und Abwehrmechanismen unserer Körper fast beliebig Zeit haben, dagegen zu wirken, und somit gefährlich hohe Schockdosen harmlos werden. Denken Sie ans Weintrinken: 5 Liter sind als Schockdosis tödlich, 5 Liter verteilt auf ein Jahr sind aber bekömmlich. Trotzdem vertreten die meisten Strahlenschutzbehörden, auch unsere, die sogenannte LNT-Hypothese (Linear, No Threshold), die davon ausgeht, dass sich das Ausmass der Gesundheitsschäden linear zur Stärke der Strahlung verhält, und dass es nach unten keine Grenze gibt: Strahlung schadet immer.

Hohe externe Strahlung schadet nicht

Es gibt aber anschauliche Beispiele, die dieser Vorstellung diametral widersprechen. Im beliebten Kurort Ramsar im Iran oder in Gualapari, Brasilien, die als «gesunde Stadt» gelobt wird, misst man externe Strahlenwerte aus Boden und All, die bis mehrere hundert Mal höher liegen als unsere Durchschnittswerte: An keinem dieser Orte sind aber Gesundheitsprobleme bekannt geworden.

Und einen weiteren Hinweis in diese Richtung gibt eine gründliche Studie aus Taiwan. Dort wurden in der 1980-er Jahren rund 10’000 Personen jahrelang mit durchschnittlich 50 mSv pro Jahr bestrahlt (achtmal soviel wie bei uns), weil bei vielen Gebäuden ein Baustahl verwendet wurde, der stark strahlendes Kobalt-60 enthält. Das erstaunliche Resultat: Die Strahlung hat den Bewohnern nicht geschadet – sogar im Gegenteil: Ihre Krebsrate war gegenüber den Unbestrahlten deutlich reduziert.

Die zusätzliche Dosis aus der Kernzone in Fukushima ist kleiner als die Gesamtstrahlung in den Alpen

Und wie sieht es in Fukushima aus, wo sich vor zehn Jahren wegen eines Tsunamis radioaktiver Niederschlag aus drei Kernreaktoren in der Umgebung verteilt hat? Nach den Berechnungen von Walter Rüegg, Kernphysiker und ausgewiesener Experte für Strahlenbiologie, der mich bei diesem Beitrag beraten hat, müsste ein nicht evakuierter Bewohner der am stärksten betroffenen Kernzone von etwa 100 Quadratkilometern mit einer zusätzlichen Lebensdosis von ungefähr 400 mSv rechnen, mit Spitzen gegen 1’000 mSv.

Um diesen Wert mit den Zahlen aus unserer Grafik vergleichen zu können, müssen wir die Jahresdosen in Lebensdosen umrechnen – also mit der heutigen Lebenserwartung von 84 Jahren multiplizieren. Dadurch ergeben sich schweizerische Lebensdosiswerte zwischen 200 und 1’800 mSv. Wären in Fukushima die Menschen also in der Kernzone geblieben, hätten sie eine zusätzliche Lebensdosis erhalten, die nur einem Teil des Schweizerischen Streubereichs entspricht. Vor allem aber müsste man nach denselben Evakuationskriterien auch die Bewohner von Alpregionen umsiedeln.

Die Luftverschmutzung in Grossstädten ist gefährlicher als Strahlung

Die in Japan angeordnete Evakuierung der Bevölkerung wäre also strahlenbiologisch nicht zwingend gewesen – vor allem auch deshalb nicht, weil die betroffenen Menschen aus ländlichen in städtische Gebiete umgesiedelt wurden, wodurch sie vom Regen in die Traufe gelangten: Die Luftverschmutzung in Grossstädten wie Tokyo (vor allem durch Feinstaub) schadet der Gesundheit viel mehr als die Strahlung. Zudem hat der durch den Umzug verursachte Stress zusätzliche Todesfälle verursacht.

Welches sind die Lehren aus diesen Betrachtungen?

1. Natürliche und künstliche Strahlung haben dieselben Auswirkungen auf die Gesundheit.

2. Die Strahlung aus Kernenergie ist im Normalbetrieb vollständig vernachlässigbar.

3. Der Grenzwert von 1 mSv pro Jahr ist viel zu tief (was zu gefährlichen Fehlhandlungen führen kann).

4. Die LNT-These ist fragwürdig; die Fakten häufen sich, die eine Strahlenexposition unter 100 mSv pro Jahr als gesundes Training für die Abwehrkräfte unseres Körpers ansehen.

Atomkraft versus Fotovoltaik

In der Schweiz sollen Atomkraftwerke durch Fotovoltaik-Anlagen ersetzt werden. Daraus ergeben sich zahlreiche Probleme für die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit beim Strom – insbesondere im Winter. Um nicht in einen Blackout zu laufen, müssen die Vor- und Nachteile von Atom und Solar gegeneinander abgewogen werden. Martin Schlumpf geht in einer Reihe von Beiträgen zentralen Aspekten von Atomstrom nach, wie Speicherung, Sicherheit, Strahlung, Abfälle und Kosten – und illustriert diese wie immer mit einer einschlägigen Grafik.

1 Kommentar zu “Überschätzte AKW-Strahlung

  1. Helmut Hostettler

    Eine sehr gut verständliche Einführung in die Welt der ionisierenden Strahlung, der Strahlenquellen und deren im Allgemeinen stark überschätzten Risiken. Strahlenquellen muss mit Respekt umgegangen werden aber Angstgefühle sind fehl am Platz.

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